Die Wiedergeburt (German Edition)
die Kleider am Leib. In feinen Fäden prasselte der Regen herab und weichte den Boden auf, während sich über das Tal ein blasser Rege n bogen spannte. Alles in Majunay, das Land, die Erde, der Himmel und das Rauschen des Windes, erinnerten La r kyen an diesem Tag an die Vernichtung seines Stammes und ließen sein Herz fast zerspringen. Der Schmerz des Verlustes traf ihn stärker als an den Tagen zuvor; vie l leicht begriff sein Verstand erst jetzt, was ihm widerfa h ren war.
Er sehnte sich nach einer Rechtsprechung, die ihm Genugtuung bereiten würde, doch die Menschen mit i h ren Gesetzen lebten in Städten, und in der Steppe regierte einzig und allein das Gesetz der Natur. Außerdem - was konnte jemand wie er schon ausrichten? Er war unbede u tend im Verlauf der Geschichte Majunays, und so wie ihm war es schon vielen ergangen. Je länger er nachdac h te, umso klarer wurde ihm, dass es zwei Wege gab, zw i schen denen er sich entscheiden musste.
Der eine war der Weg der Rache, der andere Weg j e doch wäre der Ritt nach Kentar gewesen, der Heimat se i nes Volkes im Westen. Schätzungen zufolge lag Kentar 200 Tage zu Pferd von Majunays westlichster Grenze en t fernt. Es waren die enorme Entfernung, sowie die Liebe zu seinem Weib Kara und zu seinen Adoptiveltern, die Larkyen in der Vergangenheit davon abgehalten hatten, dieses Wagnis einzugehen. Jetzt aber gab es nichts mehr, was ihn noch in Majunay hielt. Und nach seiner Gen e sung, schien der Ritt nach Westen das einzig Vernünftige.
Als er dem Schamanen von seinen Plänen berichtete, wirkte Ojun einen Moment lang enttäuscht. Trotzdem schien er Larkyens Gedanken zu akzeptieren.
„Bleib wenigstens so lange, bis deine Wunde einige r maßen verheilt ist“, sagte Ojun. „Der Verband muss noch immer täglich gewechselt werden. Wenn du zu früh los reitest, wirst du nicht fähig sein, dich lange im Sattel zu halten.“
In der Nacht wälzte Larkyen sich unruhig auf seinen Fellen hin und her. Immer wieder wechselte er zwischen Traum und Wachzustand hin und her.
Plötzlich sah er das Gesicht Boldars ganz dicht vor sich. Das eine Auge funkelte ihm stahlblau entgegen. Blut rann von den Mundwinkeln der Bestie, die ihr Maul weit au f riss und einen donnernden Schrei ausstieß.
Daraufhin sah Larkyen, wie sein Weib Kara blutübe r strömt neben die Leichen von Godan, Tsarantuya und A l van zu Boden fiel …
Seine Finger krampften sich zusammen, und er fühlte, wie sie sich um den Griff seines Schwertes schlossen.
„Ich töte dich“, zischte er. „Boldar, du sollst sterben!“
Er schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Atem ging h a stig, und sein Herz hämmerte. Tränen rannen über seine Wa n gen.
Rache, durchfuhr es ihn.
„Larkyen!“
Ojuns Stimme drang zu ihm herüber. Der Schamane hatte sich auf seinem Schlafplatz aufgerichtet. Seine Ge s talt zeichnete sich blass und hager vor dem müden Fl a ckern des fast heruntergebrannten Kochfeuers ab. Mit u n ruhigen Augen sah er Larkyen an.
„Schlechte Träume?“
Larkyen nickte, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Vom Verstand her willst du den Weg nach Westen wählen“, ahnte Ojun, „Dein Herz aber drängt dich dazu, in Majunay zu bleiben. Und nur wenn du auf dein Herz hörst, wirst du Frieden erlangen.“
„Die Götter seien meine Zeugen“, flüsterte Larkyen. „Wenn ich stark genug wäre, ich würde diese Bestie töten und alle, die ihr folgen.“
Ojuns Augen weiteten sich.
„Vielleicht wirst du das eines Tages“, meinte der Schamane, und etwas in seinem faltigen Gesicht verriet Larkyen, das er viel mehr wusste als es den Anschein ha t te.
„In der Natur gibt es immer einen, der stärker ist. Es ist ein Gesetz, das für alle gilt.“
Larkyen hatte die Hände zu Fäusten geballt.
„Aber Boldar ist der Stärkste, alter Mann. Niemand hat ihn bisher besiegt.“
Ojun musterte Larkyen eine Zeit lang, dann trafen sich ihre Blicke. Der Schamane sagte: „Morgen können wir darüber reden. Doch nun schlaf.“
Als würde sich eine beruhigende Kraft über ihn legen, verfiel Larkyen in einen ruhigen Schlaf. Wieder träumte er von seinem Weib Kara, die ihm dieses Mal ein gütiges Lächeln schenkte, während ihre Lippen sich zu liebevo l len Worten formten. Und er träumte von den Yesugei, wie sie draußen in der Steppe das Vieh hüteten. Alle waren wohlauf und am Leben, alles war gut.
Kapitel 3 – Die schwarze Sonne
Am nächsten Morgen fühlte sich Larkyen von neuer Kraft
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