Die Wiederkehr
einschmeichelndes Flüstern, das an sinnliche Lippen und einen verführerischen weichen Körper denken ließ. Andrej zwang sich, ihr zerstörtes Gesicht noch einmal und mit größerer Aufmerksamkeit zu
betrachten, und es dauerte nur einen Moment, bis er unter den Zügen
die Spuren jener ehemaligen Schönheit entdeckte, die diese Stimme
versprach. Ekel und Abscheu verschwanden. Mit einem Mal war
alles, was er für diese Frau empfand, ein unendlich tiefes Mitleid.
»Verzeih«, sagte er. »Ich wollte dich nicht anstarren.«
Das sehende Auge der Frau musterte ihn scharf, und das Ergebnis,
zu dem sie kam, schien ihren Zorn einigermaßen zu besänftigen,
denn ihre Stimme wurde noch weicher. Trauer schwang nun darin
mit. »Ja, ich glaube, so eine Frau hast du wirklich noch nie gesehen.«
Sie machte eine müde Geste. »Wir sollten uns beeilen. Der Weg ist
weit, und oben wird bald die Sonne aufgehen. Ich hoffe, deine
Freunde sind gut zu Fuß und haben keine Angst, sich schmutzig zu
machen.«
Sie waren seit einer weiteren Stunde unterwegs, jedenfalls nahm
Andrej das an. Die neuen Fackeln, die die Männer angezündet hatten,
waren mehr als zur Hälfte heruntergebrannt, und er dachte voller
Sorge daran, dass sich ihr Vorrat damit dem Ende entgegenneigte.
Allein der bloße Gedanke, in absoluter Dunkelheit durch diese Katakomben zu irren, erfüllte ihn mit einer Furcht, die er kaum niederzuhalten vermochte.
Eine Zeit lang waren sie durch Teile des unterirdischen Labyrinths
gegangen, die nichts mehr mit den Katakomben gemein hatten, die
von Salm und einige der Bewohner des oberirdischen Wiens kannten. Sie mussten viel älter sein als das Kanalsystem und das verwirrende Labyrinth aus Räumen und Fluchttunneln, das frühere Generationen angelegt hatten, vielleicht älter als diese ganze Stadt. Bei einigen Dingen, die er gesehen hatte, war er nicht einmal ganz sicher, ob
sie wirklich von Menschen gebaut worden waren. Er hatte sich allerdings gehütet, zu genau hinzusehen.
Nun aber gingen sie schon seit einer geraumen Weile durch Stollen
und über Treppen, die ihm wieder vage bekannt vorkamen. Katie war
vorausgegangen und tauchte nur manchmal aus der Dunkelheit auf,
um ihnen zuzuwinken oder auch nur einen ungeduldigen Blick zuzuwerfen. Ihre Schritte hatten sich deutlich verlangsamt. Selbst Andrej spürte, wie viel Kraft ihn der schier endlose Marsch gekostet hatte. Wie sich von Salms Soldaten fühlen mussten, darüber dachte er
lieber gar nicht nach. Die Männer folgten ihnen zwar klaglos, aber
wenn es zum Kampf käme, würden sie keine große Hilfe mehr sein.
»Da vorne ist deine neue Freundin.« Abu Dun hob den Arm und
deutete müde auf Katie, die am oberen Ende einer steilen Treppe
aufgetaucht war, deren bloßer Anblick beinahe gereicht hätte, um
Andrej ein entsetztes Stöhnen zu entlocken. Sie gestikulierte ungeduldig mit beiden Armen und schwenkte die Fackel in der rechten
Hand. Andrej hatte den Eindruck, dass sie diese nur trug, um gesehen
zu werden, nicht, um zu sehen. Nicht zum ersten Mal spürte er einen
dünnen Stich von Neid, als er daran dachte, wie leichtfüßig und sicher sich die junge Frau in diesem Labyrinth bewegte.
»Sie ist nicht meine Freundin«, knurrte er.
»Komm schon, mir gegenüber kannst du es doch ruhig zugeben«,
stichelte Abu Dun. »Ich habe doch bemerkt, wie du sie angesehen
hast.«
»Sie tut mir Leid«, antwortete Andrej ernst. »Das ist alles. Sie alle
tun mir Leid. Kein Mensch hat ein solches Schicksal verdient.«
»Och, der eine oder andere fiele mir da schon ein«, meinte Abu
Dun versonnen. Er wartete vergeblich auf eine Antwort, hob schließlich mit einem Seufzen die Schultern und wurde dann ebenfalls ernst.
»Traust du ihnen?«, fragte er.
»Haben wir eine andere Wahl?«, gab Andrej zurück, schüttelte den
Kopf und beantwortete erst dann Abu Duns Frage. »Ja. Ich glaube
schon. Breiteneck hat ihnen vertraut.«
»Wie beruhigend«, spöttelte Abu Dun. »Einmal ganz davon abgesehen, dass ich Breiteneck nicht vertraut habe - wie kommst du auf
diese Idee?«
Andrej tat sich ein wenig schwer mit der Antwort. Eigentlich war es
nur ein Gefühl, allenfalls tausend Kleinigkeiten, die sich in einem
verborgenen Winkel seines Bewusstseins allmählich zu einem Bild
formten, das er bereits zu erkennen, aber noch nicht in Worte zu
kleiden vermochte. »Ich weiß es eben«, sagte er schließlich.
»Na, dann ist es ja gut«, grunzte Abu Dun. »Sollten wir eine böse
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