Die Wiederkehrer
Elternhaus und dann begann er zu erzählen. Es floss einfach so aus ihm heraus. Die angespannte Atmosphäre daheim, als hätte jeder Angst etwas Falsches zu sagen. Sobald Niko oder Ben ein Bedürfnis äußerten, verfiel ihre Mutter in ein allumfassendes Klagelied, was ihr nicht alles versagt geblieben war. Sie war perfekt darin, ihren Kindern Schuldgefühle einzuimpfen, für jede Krankheit, jeden Schmerz, selbst für jede verdammte Blähung machte sie ihre Kinder verantwortlich. Ihre beiden Buben würden sie so fertig machen, dass sie krank würde, am Ende gar durch die Rücksichtslosigkeit der Kleinen sterben. Jedes positive Ereignis im Leben ihrer Kinder war ein Affront gegen sie, jede Freude nichts weiter, als ein Peitschenhieb in ihre ach so gepeinigte Seele.
Niko begann zu begreifen, warum er solche Panik vor Menschen hatte, die weinten. Er fühlte sich schuldig, weil er gelernt hatte, dass er das Leid seines Gegenübers zu verantworten hatte – unabhängig vernünftiger Tatsachen – und es nie würde gutmachen können. Die Schuld würde für allezeit auf ihm lasten. Sein Vater war ein gefühlskalter Klotz gewesen, der zwar auch in die Dramen seiner Frau hineingezogen worden war, darauf aber mit sturer Ignoranz reagiert hatte. Das motivierte diese wiederum dazu, sich an ihren Kindern auszulassen. Gemeinsam waren sich die Eltern über eine strenge Hand einig. Wenn der Vater am Abend von der Arbeit heimkam, wartete die Mutter mit einer Liste von Schandtaten ihrer Buben auf, die eine Züchtigung nötig machten. Sie schlug zwar nie selbst zu, hielt die Kinder aber fest und instrumentalisierte ihren Mann als Waffe gegen die Brut, in der sie die Ursache ihres verhunzten Lebens sah. Ihr täglicher Verrat war vernichtender, als Vaters Schläge, doch Niko hatte das nie besonders schlimm gefunden. Er kannte es nicht anders. Er dachte immer, allen Kindern ginge es genauso. Erst als er älter war und zu Gast bei anderen Familien, entdeckte er, dass diese unter ganz anderen Umständen aufwuchsen. Liebevoll.
„Ich habe sie immer verteidigt und geliebt“, schloss Niko seine Erzählung. „Ich dachte stets, Ben und ich hätten sie wirklich durch unsere Verdorbenheit dazu gezwungen, zu solchen Maßnahmen zu greifen.“
„Uns tut es mehr weh als Euch“, murmelte Bernd wissend.
„Ja, genau das behaupteten sie immer. Wie konnte ich den Unsinn glauben?“, murmelte Niko traurig.
„Kinder sind auf ihre Eltern angewiesen. Ein Zwang der Natur – Überlebensinstinkt – lässt sie ihre Eltern lieben, egal was diese tun. Die evolutionäre Stärke des Menschen ist die Anpassungsfähigkeit. Und das tun Kinder, sie passen sich an die widrigsten Umstände an, um selbst in einer unwirtlichen Welt überleben zu können. Ein geniales Konzept. Nur funktioniert die Welt oft nicht nach den Regeln des Elternhauses. Die Differenz ist die Bürde des restlichen Lebens“, dozierte Bernd. Niko hob den Kopf blickte ihn erstaunt an.
„Sorry“, murmelte Bernd verlegen, „Ich fange schon wieder zu Schwafeln an, unterbrich mich einfach, wenn ich das tu.“
„Nein“, stieß Niko hervor, „Das ist interessant. Du hast recht. Ich bin bis zu meinem … ich bin in meinem
alten
Leben herumgeschlichen, wie in meiner Kindheit. Karin war wie meine Mutter, irgendwie. Sie stellte die Forderungen und alles, was ich tat oder brauchte, war ein Affront gegen sie. So wurde ich ein unselbständiger, gefühlloser Klotz wie mein Vater – habe mich instrumentalisieren lassen. Ich war nichts weiter als ein Werkzeug – so wie er. Aber ich glaube, ich hätte nie auf Befehl Kinder geschlagen.“
„Das glaube ich auch nicht“, meinte Bernd und küsste Niko auf den Scheitel.
„Oh Gott, ich dachte, das wäre eine Stärke, dass man von mir
alles
haben kann und ich im Gegenzug bedürfnislos bin“, erkannte Niko.
„Du hast eine zweite Chance erhalten. Nutze sie.“
„Das werde ich … bestimmt“, behauptete Niko. Eine Weile lagen sie da und genossen einfach nur ihre Nähe.
„Karin …“, murmelte Bernd schließlich, „Ich hab's mir doch gedacht.“
„So offensichtlich?“, fragte Niko.
„
Ziemlich
offensichtlich!“, meinte Bernd und grinste Niko anzüglich an. „Du hast deinem Bruder die Frau ausgespannt?“
„Ich wusste es nicht … na ja, sie waren nicht
richtig
zusammen“, erklärte Niko.
„Und wie ist es jetzt, die beiden zusammen zu sehen?“, wollte Bernd wissen. „Bist du eifersüchtig?“
„Oh Gott, nein!“, rief Niko
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