Die Wiederkehrer
überfordert. Immerhin hatte er sich nicht durch kryptische Aussagen lächerlich gemacht, zumindest hoffte Niko das, denn sonst würden ihn seine Kollegen auch bald mit dieser
'Läuterung'
nerven.
„War ein Scheiß-Urlaub, was?“, hatte einer der Kollegen erraten. Scheiß Urlaub? Ein Scheiß-Leben war das gewesen. In der Tat hatte er immerhin zehn Jahre gelebt, während für die Welt hier nur eine Sekunde vergangen war. Und wenn das mit dem Koma stimmte, hatte er sogar fast vierzig Jahre gelebt, während die Leute in seinem jetzigen Umfeld nur einen einzigen Atemzug gemacht hatten. Das war ein Aspekt, der Niko immer noch zu schaffen machte, und ihn vermutlich noch sehr lange beschäftigen würde. Immerhin bekam er die Zeiten allmählich in den Griff. Wie musste es Bernd erst ergehen, der ja rund zwanzig Jahre zurück katapultiert worden war, wenn zehn schon so erschreckend waren?
„Na? Hat der Herr Scheiffler in zwei Wochen Urlaub alles verlernt?“, hatte der Chef ihn geneckt, weil Niko sich etwas unbeholfen anstellte. Ihm fehlte einfach die Routine.
„Mir kam er vor wie zehn Jahre“, war Nikos zynische Antwort gewesen und alle hatten gelacht.
„Das muss ja wirklich ein
schlimmer
Urlaub gewesen sein“, meinten die Kollegen. Hatten die eine Ahnung! In dieser Zeit hatte er zwei Mal seinen Job verloren, sein Bruder war verstorben, er selbst sowie einige andere Verwandte, er hatte eine lieblose Beziehung geführt, fünfzehn Kilo zugenommen und war vor einen LKW gesprungen. Niko hatte nach dem Suizidversuch wahrscheinlich fast dreißig Jahre im Koma gelegen, war durch einen sexsüchtigen, alkoholabhängigen Schutzengel auf Entzug wieder in den jungen Körper zurückgekehrt, auf einmal schwul geworden, hatte sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, ihn gefickt, ihm einen geblasen und sich von ihm einen Finger in den Arsch stecken lassen – und es hatte ihm gefallen. Ja, verdammt, das war ein schlimmer Urlaub gewesen – wenn auch einige Aspekte davon sehr geil gewesen waren. Aber wem sollte er das sagen? Wem davon erzählen? Niemand würde Niko glauben. Außer Bernd. Der Mann, der ihn so fest gehalten hatte, als er in Tränen ausgebrochen war. Der Mann, der ihn nicht verurteilte, weil er sein Leben weggeworfen hatte. Der Mann, der ihn auf eine Weise berührte – nicht nur körperlich, vor allem menschlich, seelisch – wie nie zuvor ein Mensch. Verdammt! Niko wollte ihn. Er wollte bei ihm sein, Zeit mit ihm verbringen, ihn lieben dürfen, mit ihm über alles reden und mit ihm Sex haben.
Bereits am zweiten Arbeitstag war Niko wieder fit für seine Tätigkeit und stürzte sich mit Feuereifer auf seine geliebte Heidi. Nicht nur, weil ihn das von der Grübelei ablenkte. Er liebte diesen Job einfach. Das war ihm damals nicht so bewusst gewesen. Die Arbeit hatte ihm Spaß gemacht, aber er hatte nie begriffen, wie wichtig sie ihm gewesen war, wie erfüllend.
Vermutlich war es so, wie die Leute immer sagten:
Entweder
das Liebesleben passt,
oder
das Berufliche. Man konnte eben nicht beides haben. Niko hatte selbst oft beobachtet, wie diese Wogen bei seinen Mitmenschen hin und her gingen. Beruflicher Erfolg wurde mit privaten Problemen quittiert, und Glück in der Liebe ließ oft das Berufsleben eskalieren. Nun, bei Niko war das anders gewesen. Weder beruflich noch privat hatte es Wellengang gegeben, sein Leben war ein großer, stiller, tiefer See gewesen, ohne ein geringstes Lüftchen. Wenn überhaupt, hatte sich bloß die Oberfläche etwas gekräuselt. Es gab weder das große Glück, noch das große Unglück. Er hatte immer gedacht, das wäre gut, er mache es eben richtig. Er werde nicht so vom Leben gebeutelt wie alle anderen. Tja, nur waren die anderen nicht vor einen LKW gesprungen, weil ihnen ihr Leben trost- und perspektivlos erschienen war.
Auf dem Balkon sammelten sich die leeren Bierflaschen, wie Jugendliche vor einem Konzert. Niko sollte allmählich aufhören zu trinken – morgen musste er wieder zur Arbeit und er hatte schon ziemlich getankt. Er zählte die Flaschen. Wow. Er hatte bereits mehr als einen Six-Pack vernichtet. Die ganze Zeit über war kein einziger Mucks aus dem unteren Stockwerk gekommen. Schade. Drei Mal hatte Niko in der vergangenen Woche den Mut gefunden, bei Bernd zu läuten, wollte ihn zur Rede stellen, wissen, was verdammt nochmal er falsch gemacht hatte, und was genau Bernd gemeint hatte damit, dass die Abstinenz umsonst gewesen wäre.
Dass sein Nachbar ihm nicht öffnete, tat
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