Die wilde Gärtnerin - Roman
anderer daneben (für Igel, die noch keinen Winterplatz gefunden haben). Muss kurz mein Klohäuschen aufsuchen – alles bestens, nicht zu weich und nicht zu hart. Mal sehen, ob das in den kommenden Wochen der mangelnden Bewegung so bleibt. Im Vorratslager bei Obst und Gemüse alles fein. Reinige und öle Spaten, Sense, Harke, Sauzahn und hänge sie im Geräteraum auf (die nächsten Wochen wird es keine Verwendung für sie geben). Sehe Tonis Therapie-Kolleginnen kommen, verhalte mich ruhig und werde übersehen.
Bin bei Einbruch der Dunkelheit (16 Uhr) wieder in der Wohnung, aber drüben ist noch alles finster und leer. Esse früh zu Abend (Käsebrot und Tee), höre eine »Dimensionen«-Sendung im Radio über den Einfluss internationaler Konzerne auf die europäische Politik. Blick hinüber: Meine Nachbarin sitzt in einigem Abstand vor ihrem Laptop. Der steht am Tisch. Ihre Beine ruhen auf einem zweiten Sessel, den sie schräg vor sich hingestellt hat. Vermutlich schaut sie sich einen Film an. Ihr blasses Gesicht dient den matt-blauen Strahlen aus dem Bildschirm als Leinwand. Bei jedem Szenenwechsel zuckt ihr Wohnzimmer in neuem Lichtschein auf. Ihre schlanke Figur wirkt schemenhaft gespenstisch, gleichzeitig aber auch präsent, weil sie sich vor dem flackernden Hintergrund als heller Kontrast scharf abhebt. Wie eine Trutzburg in der Flut der Eindrücke.
22.12.
Ihre Garderobe leidet definitiv nicht an Überangebot. Auf einem Wäscheständer (ist mir beim Wohnungsbezug nicht aufgefallen), der neben dem Tisch vor dem Fenster steht, hängt ihre Kleidung: drei Hosen (khaki, militärgrün, dunkelblau), einige Langarm-Shirts, zwei Kapuzensweater. Sie steuert in Jogginghosen und engem Shirt durch die Wohnung. Trotz des Outfits wirkt sie wie immer sehr aufgeweckt und geschäftig. Ein Häferl steht neben dem Laptop, der gleich nach dem Aufstehen hochgefahren wurde. Meine Nachbarin ist heute durchgehend zuhause (und in Jogginghosen → weil alles andere trocknen muss?). Sie sitzt vor dem Computer, tippt, schlägt in Büchern nach (die immer zahlreicher werden und in der ganzen Wohnung verstreut sind). Dann legt sie sich ins Bett und liest. Der Bücherstapel neben ihrem Futon wächst und vermehrt sich.
Langsam wird mir die Beobachtung meiner Nachbarin zur lieben Gewohnheit. Sie ist wie ein Aquarium für mich, nur dass ich nicht gegen ihr Glas klopfen kann. Merke, dass ich sie beinahe unablässig beobachte. Kurze Abwesenheiten ihrerseits (gestern tagsüber nicht daheim) kann ich zwar ohne Nervosität überstehen, sie machen mich allerdings unfroh.
Sinniere über das allgegenwärtige Möbelstück
Kleiderständer
: Es befindet sich in nahezu jeder Wohnung, ist immer im Weg, steht dominant-hässlich herum und fristet trotzdem ein unbeachtetes Dasein. Haben sich seiner jemals Design-Wettbewerbe oder Lifestyle-Magazine angenommen? Glaube nicht. Eher liegt die Hauptanforderung an diesen Gegenstand in seiner Fähigkeit, verschwinden zu können. In Nischen, Abstellräumen oder hinter Vorhängen. Da zeigt der Kleiderständer deutliche Parallelen zu Scheiße: Die muss auch aus dem Blick der Zivilisation verschwinden. Wird mit unvernünftiger Wasserverschwendung durch ein aufwendiges Kanalsystem weggespült. Sollte am besten gar nicht vorhanden sein.
Frage mich außerdem, wie das Haus der Nachbarin an der Rückseite ausschauen mag. Im hinteren Teil der Wohnung, dem Vorzimmer, ist neben der Tür ein Fenster zu sehen, durch das manchmal Licht fällt. Bilde mir ein, dahinter kahle Äste zu erkennen. Müsste mich eigentlich daran erinnern, habe doch etliche Abende gemeinsam mit Leo im Gastgarten des Eckrestaurants verbracht. Die teilen sich den Hof mit dem Gegenüber-Haus. Habe aber keine Ahnung mehr davon → sollte damals Leo meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben? Werde wohl meine Wohnung verlassen müssen, um meiner Erinnerung nachzuhelfen.
28.12.
Den Restaurantbesuch hätte ich mir sparen können. Aber wenigstens ist nun das Rätsel des Vorzimmerfensters geknackt: Holz-Pawlatschen führen direkt in den ersten Stock. Dadurch kann das Vorzimmerfenster meiner Nachbarin freien Blick in den Hof bieten, in dem eine uralte Platane steht → kahle Äste! Diese Erkenntnis ist aber definitiv nicht die Mühe des auswärtigen Abendessens wert. Zumindest hat Toni die Genugtuung, mich aus der Wohnung gelockt zu haben. Aber nach der Hof-Begehung hätte ich den Rest des Abends auch in meiner Wohnung verbringen können. Wäre besser
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