Die wilde Gärtnerin - Roman
müde, vor allem wird mir kalt. Verlasse meinen Späherposten, überstelle mich ins Bett. Stehe nach kurzem Schlaf schon wieder vor dem Fenster. (Die Neugier lässt mir keine Ruhe.) Blicke auf eine Hausfassade, aus der schwarze Rechtecke zurückglotzen. Ziehe meinen Mantel über den Pyjama und schlüpfe in Stiefel (Temperaturen sinken täglich). Gehe hinunter zu meinem Holzhäuschen. Die Nacht ist still, selbst mein Urin rinnt leise in die Glasflasche. Verbrenne mein Klopapier in der Steinschale neben dem Klositz, aber es scheint dem Feuer zu eisig zu sein, um leidenschaftlich zu lodern. Es blitzt nur kurz auf, schnappt nach Luft, erstirbt zu kalter Asche. Gehe wieder rauf und stelle mich hinter das Fenster. Gegenüber keine Veränderung. Lege mich ins Bett. Erwache um acht Uhr. Drüben im Halbdunkel der Karton unverändert.
Toni bringt Kipferl zum Frühstück und Powidl aus unseren Zwetschken. Die Marmelade schmeckt nach Sommer, Süße und dem munteren Wispern grüner Blätter im Sonnenlicht. Vermisse meinen üppigen Garten schon Mitte Dezember → wie die nächsten Monate überstehen?
Beziehe meinen Posten hinter dem Fenster, sobald Toni in ihre Praxis geht. Drüben tut sich nichts. Lege mich auf das Sofa, höre »Von Tag zu Tag«, ein Blick hinüber → nichts. Halte ein kurzes Nickerchen → nichts. In diesem Rhythmus vergehen die Stunden. Drüben keine Fortschritte, auf meiner Straßenseite zähe Müdigkeit. Meine Neugier schlägt in Langeweile um. Auch mein Stuhlgang gestaltet sich träge: Die Entleerung selbst geht zwar leicht vonstatten, aber bis dorthin braucht es längeres Warten → mein Darm passt sich eben den allgemeinen Umständen an.
17.12.
Wache um vier Uhr auf, muss Wasser lassen. Die Kälte auf meiner Toilette macht mich munter. Kann im Bett nicht wieder einschlafen. Schaue aus dem Fenster. Bilde mir ein, drüben neben dem Bananenkarton etwas zu sehen. Etwas Eckiges. Ärgere mich. Habe die Lieferung schon wieder verpasst. Warte am Fenster. Nichts tut sich. Niemand betritt die Wohnung. Mir wird kalt. Gehe ins Bett und schlafe bis neun. Nach dem Aufstehen gleich zum Fenster. Neben dem Bananenkarton liegt wirklich etwas: zusammengebundene Holzbretter. Schaue in kurzen Abständen hinüber → keine Veränderung. Frühstücke. Schaue rüber → nichts. Stehe vom Sofa auf. Blicke rüber → nichts. Mache ein kleines Mittagsschläfchen, wache gegen drei Uhr auf, schaue hinüber: Endlich! Meine neue Nachbarin!
Sie ist schlank, hat erdäpfelfarbige kurze Haare, trägt weite Hosen und eine Winterjacke. Sie stellt eine zweite Kiste neben den Holzbrettern ab, richtet sich auf, dreht sich nach hinten und verlässt die Wohnung. Nach kurzer Zeit kommt sie aus dem Hauseingang, geht die Straße entlang, verschwindet um die Ecke. Kann ihr Gesicht nur im Halbprofil sehen. Sie muss in meinem Alter sein.
Toni schaut um sechs zum Abendessen vorbei. Bringt Adventkekse mit. Hat sie mit ihrer Altengruppe gebacken. Ich hätte mitgehen sollen, sagt sie, es war so irrsinnig lustig, es hätte mir sicher gutgetan. Sie gibt einfach nicht auf.
Beobachte die gegenüberliegende Fensterreihe.
Muss
wissen, wie es weitergeht.
18.12.
Jetzt macht Auflauern wieder Freude! Die sportliche junge Frau entschädigt mich für alle ereignislosen Stunden hinter meinem Fenster. Heute: der ganz große Einzug! Sie fährt mit einem Kleintransporter vor, parkt in meiner Einfahrt, schaltet die Warnblinkanlage ein und schleppt eigenhändig – alleine! – ihre Habseligkeiten in den 1. Stock (haben die drüben einen Lift?). Gut, viel hat sie nicht zu tragen: zwei Holzsessel, ein Futon, etliche Kisten und Schachteln (aus Plastik und Karton). Das war’s. Sie dürfte karg leben.
Es zeichnet sich folgende Raumeinteilung ab: Das Zimmer mit zwei Fenstern, direkt gegenüber meinem Wohnzimmer, dürfte auch ihre Tagesaufenthaltsstätte werden → aus den Holzbrettern ist ein Tisch geworden, der steht mit den zwei Sesseln vor dem Fenster. Im Zimmer daneben (mit nur einem Fenster) liegt ihr Futon. Von den hinteren Räumen der Wohnung ist das Vorzimmer ein Stück weit einzusehen. Auch dort lassen sich keine Materialschlachten erkennen. Ihre Kisten sind beinahe gleichmäßig auf beide Zimmer verteilt. Darin dürften sich Bücher, Textilien und Kleinkram befinden. Alles in überschaubaren Mengen. Sie hat noch nicht viel ausgepackt. Sie trägt dieselbe Kleidung wie gestern: weite Hosen, festes Schuhwerk, Winterjacke, heute zusätzlich Handschuhe und
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