Die wilde Jagd - Roman
wünschte, du würdest mir mehr vertrauen, Junge. Ich würde dir alles sagen, wenn ich es könnte .
Aus den Augenwinkeln sah er, wie N’ril nach dem Weinkrug griff. Nach kurzem Zögern stellte Alderan seinen Becher ab und schob ihn über den Tisch, damit er wieder gefüllt wurde. Bei der Göttin, er brauchte es!
N’ril goss beide Becher voll, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und zupfte einige Brocken aus dem Rest des Fladenbrotes. Im Innenhof ließ sich ein halbes Dutzend brauner und schwarzer Vögel, die nicht größer als Spatzen waren, auf dem Rand des Springbrunnens nieder; sie tranken, badeten und zwitscherten. Von Zeit zu Zeit warfen sie argwöhnisch ein Auge auf die beiden Männer im Schatten.
»Er ist sehr begabt im Schwertkampf«, sagte der Gimraeli schließlich. Er warf einige Krumen hinaus in den Sonnenschein und beobachtete, wie sich die Vögel darum stritten.
»Gair? Ich glaube schon; schließlich hat er ein ganzes Jahrzehnt im Mutterhaus verbracht. Was immer ich auch sonst von den Suvaeonern halten mag, sie bilden gute Schwertkämpfer aus.«
»Das meinte ich eigentlich nicht.« N’ril riss ein weiteres Stück Brot ab und aß es. »Er hätte meine Hilfe heute nicht gebraucht, Alderan. Er hätte gegen die drei Kultisten allein bestehen können. Es ist die Art, wie er kämpft. Nicht unbesonnen, sondern … Wir nennen es qalen al jinn . Ich kenne dafür kein Wort in Eurer Sprache.«
Der Begriff war Alderan fremd, also übersetzte er ihn Wort für Wort. »Herz des Drachen?«
»Das trifft es ziemlich genau. Es bedeutet, dass jemand sein ganzes Selbst in eine Aufgabe steckt, sich ihr vollkommen hingibt und nichts von sich zurückhält.« Der Wüstenmann hielt inne. »Oder vielleicht auch, dass er nichts mehr zu verlieren hat.«
Alderan dachte an den Zusammenprall glänzender Schwerter auf dem Übungshof, während Schweiß die Erde wie Tränen bedeckt hatte. »Du hast ein gutes Auge für Sachverhalte, N’ril.«
»Ah. Jetzt wird mir einiges klar.« N’ril bediente sich bei den stark gewürzten Hammel- Tajani und nahm noch ein Stück Fladenbrot. »Jemand, der ihm nahestand?«
»Es wird ihm nicht gefallen, wenn ich es dir sage, aber so ist es.« Alderan wirbelte einen Schluck Wein im Mund herum und ließ ihn die Kehle herunterrieseln. Die Erinnerungen waren nicht genauso leicht zu schlucken. »Das Kapitelhaus hat an jenem Tag etliche gute Leute an Savins Kreaturen verloren.«
»Hm. Ich glaube, es ist wichtig, dass er trauert.«
»Wir trauern nicht auf die gleiche Art wie dein Volk, nicht mit Blutvergießen«, sagte Alderan. »Gair braucht einfach ein wenig Zeit.«
Trotz seiner vielen Besuche in der Wüste hatte er das Trauerritual nur ein einziges Mal beobachten können. Er hatte einen Hügel erklommen und dort eine kniende Frau angetroffen, die vor einem frisch zugeschütteten Grab vor und zurück schwankte. Als er sah, wie sie sich den eigenen Arm aufschlitzte und ihr Gesicht mit Blut beschmierte, bis es ihr wie Tränen vom Kinn tropfte, hatte er die Flucht ergriffen.
N’ril schüttelte den Kopf. »Wenn eine Wunde zu lange schwärt, muss sie trockengelegt werden. Es ist besser, sie jetzt zu säubern, auch wenn es wehtut, bevor sie sich entzündet.«
»Er braucht bloß Zeit«, sagte Alderan noch einmal. Er hoffte von ganzem Herzen, dass das stimmte, und versuchte die Stimme in seinem Hinterkopf zu verdrängen, die darauf beharrte, dass er unrecht hatte. »Entweder verheilt seine Wunde, oder er wird lernen müssen, mit dem Schmerz zu leben, wie wir anderen auch.«
1 8
Gair drehte die Schulter zum Spiegel. Der Schnitt war so sauber wie der eines Chirurgen. Ein wenig Blut tropfte aus der Wunde, und sie stach, weil er sie mit Seifenwasser ausgewaschen hatte. Vorsichtig betupfte er sie mit einem Waschhandschuh. Sie war so oberflächlich, dass sie eigentlich nicht genäht werden musste – im Gegensatz zu seinem Hemd, das nur noch ein Lumpen war. Er betrachtete die blutige Kleidung zu seinen Füßen und gab ihr einen Tritt, sodass sie über den gefliesten Boden außer Sichtweite rutschte.
Er stützte sich auf den Waschtisch und schloss wieder die Augen. Bei allen Heiligen, er war so erschöpft. Sobald die Erregung des Kampfes abgeklungen war und Hitze und Speisen ihre Wirkung gezeigt hatten, wollte er nur noch ins Bett kriechen. Doch es würde nicht viel helfen. Wie viel er auch immer schlafen mochte, er fühlte sich stets gleich: ausgehöhlt und wie ein Sack alter Knochen.
Ich
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