Die wilde Jagd - Roman
hast? Es ist ungehörig, wenn du dich jetzt darüber beschwerst, dass du es halten musst.«
»Das war, bevor ich wusste, was Ihr von mir erbitten würdet!«, fuhr Gair ihn an.
»Es ist nur zu deinem Besten.« Die Nadel stach wieder in seine Haut.
»Wenn ich mich recht erinnere, wollte Goran mich aus demselben Grund verbrennen.«
Die Schere fiel klappernd in die Waschschüssel. Alderan ließ die Nadel in Gairs Schulter stecken, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn finster an. Seine blauen Augen blitzten unter der gekräuselten Stirn. »Hättest du es lieber gehabt, wenn ich dich nach Norden hätte ziehen lassen? Wo du mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgekommen wärest?«
»Ja!« Gair sprang auf und lief in dem kleinen Raum auf und ab. »Wenigstens hätte ich dann etwas Sinnvolles getan, anstatt hier herumzusitzen.«
»Ich weiß, dass du mir nicht glauben wirst, aber ich verstehe deine Gefühle.« In Anbetracht von Alderans Miene klangen die Worte unerwartet sanft. »Ich verstehe dich besser, als du ahnst. Aber es ist noch zu früh.«
»Es ist nie zu früh für Gerechtigkeit.«
»Glaubst du, dass du das tust? Für Gerechtigkeit sorgen? Bei der Liebe zu den Heiligen, Junge, denk doch einmal mit dem Kopf anstatt mit deinen Schmerzen. Wenn du jetzt auf Savin losgehst, wirst du verlieren, und dann ist dein Leben genauso verschwendet wie Darrins oder Donatas oder das aller anderen, die an jenem Tag gestorben sind. Willst du das etwa?«
»Ich will, dass er für das zahlt, was er getan hat.« Gair Stimme zitterte vor Wut.
»Das will ich auch, glaube mir, und meine Rache schwelt schon länger als deine«, sagte Alderan. »Aber wenn du es übereilst, kannst du zu viel verlieren. Mach dich nützlich, und komm mit mir nach El Maqqam. Hilf mir im Archiv. Wenn wir finden, wonach wir suchen, und wenn es uns zur Sternensaat führt, können wir Savin besiegen.«
»Ich werde erst ruhen, wenn er kalt in der Erde liegt, Alderan. Das schwöre ich.«
»Und ich möchte dabei sein, wenn du ihn zur Strecke bringst, aber was ist wichtiger, einen Mann zu töten oder das Leben Tausender Menschen zu retten, die sterben würden, wenn der Schleier zerreißt?«
»Aber wenn Savin tot ist, bleibt der Schleier unversehrt, und wir können uns dieses ganze Herumsuchen sparen!«
»Vielleicht«, sagte der alte Mann und griff nach der Schere. »Doch wenn du ihm unterliegst, wird er den Schleier zerreißen und das Verborgene Königreich öffnen. Und dann wird es noch mehr Arbeit und einen Wächter weniger geben, der mir helfen könnte, während Savin noch immer da ist.« Er breitete die Hände aus. »Denk an das, was passiert ist, als du ihm zuletzt bei den Fünf Schwestern gegenüberstandest. Willst du das wirklich noch einmal durchmachen?«
Ja! , schrie die Wut in ihm. Ich würde es noch hundertmal durchmachen, noch tausendmal, wenn das bedeuten würde, dass er für seine Taten büßt!
Die Rache schlug ihre Trommel, pochte in Gairs Ohren zum Rauschen des Blutes, und bei all dem Lärm konnte er kaum klar denken. Er ballte die Fäuste. Die Muskelstränge an seinen Armen und Schultern traten deutlich hervor, bis die Wunde um die Nadel herum zu pochen begann.
Als Alderan seinen Arm berührte, zuckte Gair zusammen.
»Komm, Junge, setz sich«, sagte der alte Mann. »Es fehlen noch ein paar Stiche, und ich kann nicht so hoch greifen, wenn du stehst.«
Gair starrte ihn an. Wenn mir etwas einfällt, was du für mich tun könntest, werde ich es dir sagen, und dann sind wir quitt , hatte der alte Mann in jenem Wirtshaus in Dremen gesagt. Gair war einverstanden gewesen und hatte ihm sein Wort gegeben. Und nun fesselte ihn sein Ehrgefühl wie geschmiedeter Stahl.
Alderan hielt den Kopf schräg, und in seinen Augen glitzerte es. »Oder soll ich mir eine Leiter holen?«
Dieser sanfte Humor führte dazu, dass ein wenig Anspannung aus Gairs Gliedern abfloss. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, kehrte auf seinen Schemel zurück und setzte sich schweigend. Alderan setzte seine Arbeit fort. Gair zuckte kaum noch zusammen, wenn die Nadel in sein Fleisch stach und er ein seltsames Ziehen spürte, wenn der Faden hindurchgezogen wurde. Doch die Wut nagte noch immer an seinen Eingeweiden, und er musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht aus ihm hervorbrach.
Schließlich vernähte der alte Mann den Faden, schnitt ihn ab, warf seine Schere wieder in die Tasche und die Nadel in die Schale. Dann bestrich er die Wunde mit
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