Die wilde Jagd - Roman
einer Salbe aus einer der Phiolen.
»Wie lange?«, fragte Gair.
»Hm? Die Fäden können in etwa einer Woche gezogen werden. Zieh dein Hemd erst wieder in ungefähr einer Stunde an, damit die Salbe eindringen kann.«
Er hätte sich klarer ausdrücken sollen. »Wie lange habt Ihr gewartet?«
»Ach so. Ungefähr zwanzig Jahre, vielleicht auch etwas mehr oder weniger.«
Das war beinahe so lang, wie Gair schon auf der Welt war. Er zuckte zusammen und schloss die Augen. Bei ihm war es erst sechs Wochen her, und er verbrannte schon von innen heraus. »Wird es mit der Zeit besser?«
»Es wird leichter«, sagte Alderan und wischte sich die Hände ab. »Ob es auch besser wird, liegt nur an dir selbst.«
An zwei Seiten des Hofes hinter N’rils Haus befanden sich insgesamt sechs Ställe. Der Klang von Gairs Stiefeln auf den Pflastersteinen reichte aus, um fünf Pferdeköpfe über die Stallgatter zu locken, und fünf Ohrenpaare zuckten neugierig. Langsam ging er von Stall zu Stall, kraulte hier ein Kinn, zupfte da an einem seidigen Ohr, während die Pferde in seinen Taschen nach Leckereien stöberten.
Pferde hatte er schon immer geliebt und auch den warmen, süßen Geruch der Stallungen. Diese Tiere waren angenehme Gefährten; sie waren sowohl vertrauenswürdig als auch zutraulich. Es war ihnen gleichgültig, was er sagte, solange seine Stimme freundlich klang, und wenn er gar nichts sagte, wurden sie weder mürrisch, noch stolzierten sie beleidigt davon. Sie beurteilten einen Menschen ausschließlich nach seinen Taten. Er konnte sich schlimmere Kreaturen vorstellen.
Der sechste Stall schien leer zu sein. Zumindest gab es von dort keine Reaktion, als er mit der Zunge schnalzte. Er lehnte sich gegen die Tür und spähte in das Zwielicht. Ein Schatten sprang auf ihn zu. Elfenbeinfarbene Zähne schnappten nach ihm, dann schlug das Pferd so hart mit den eisenbeschlagenen Vorderhufen gegen die Stalltür, dass diese in den Angeln erzitterte.
Gair wich zur Seite. »Hoppla!«
Der wogende Schatten im Stall starrte ihn finster an und stampfte warnend auf.
»Ist ja gut. Ich will dir nichts tun.« Er streckte die Hand aus.
Das Pferd nährte sich ihm nicht. Seine Hufe scharrten rastlos im Stroh, und es warf den Kopf immer wieder herum, aber es kam nicht auf ihn zu. Vielleicht hätte er einen Apfel aus der Küche mitbringen sollen. Das Zutrauen dieses Tieres war offenbar nicht leicht zu gewinnen.
»Stehst du immer so früh auf?«, rief N’ril.
Gair drehte sich um und sah, wie sein Gastgeber auf ihn zukam. »Das ist eine Angewohnheit, die ich einfach nicht ablegen kann«, sagte er.
»Hierzulande sind die frühen Morgenstunden die besten des Tages, bevor die Hitze einsetzt.« N’ril lehnte sich gegen die Wand neben der Stalltür und deutete mit dem Kopf auf das Pferd. »Wie ich sehe, hast du dich schon mit der Dämonin bekannt gemacht.«
»Ich wollte sie begrüßen, und sie hat versucht, die Tür einzutreten.«
N’ril grinste. »Auf diese Weise sagt Shahe ›Guten Morgen‹. Möchtest du sie sehen?«
Als Gair nickte, schob N’ril die Riegel an der Stalltür beiseite und öffnete sie weit. Die Stute sprang mit einem wütenden Wiehern in den Sonnenschein, trat aus, bäumte sich auf und lief im Hof umher. Sie war schwarz wie die Nacht, tänzelte herum und hatte das breite, konkave Gesicht einer reinrassigen Sulqa . Strohhalme flogen aus ihrer Mähne, als sie den Kopf schüttelte.
»Ist sie nicht großartig?«, fragte N’ril. »Wie ein Fleisch gewordener Gewittersturm!«
»Sie ist fantastisch.«
Vorsichtig machte Gair einen Schritt auf das Pferd zu. Shahe wich vor ihm zurück und beäugte ihn wachsam. Sie richtete das eine Ohr auf ihn aus, während das andere vor und zurück zuckte, und sie blies ruppige Warnungen durch die Nüstern.
»Shahe«, sagte er sanft zu ihr. »Shahe.«
Die Stute richtete beide Ohren auf. Gair näherte sich ihr noch ein wenig, streckte die Hand aus, nannte sie abermals beim Namen und schnalzte leise.
Sie schnaubte, drehte ihm den Kopf zu, und er musste rasch die Hand wegziehen, als ihre Zähne nur eine Haaresbreite von seinen Fingern entfernt aufeinanderschlugen.
»Vielleicht hätte ich dich warnen sollen«, sagte N’ril. »Sie stammt von Kierims Schlachtross ab.«
»Gehört sie dir?«
»Inzwischen ja. Vorher war sie Eigentum meines Bruders.« Etwas in der Stimme des Wüstenmannes führte dazu, dass Gair ihn ansah. »Mein Bruder ist tot.«
Gütige Göttin . »Es tut mir leid wegen deines
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