Die wilde Jagd - Roman
erzitterte und zog die Seidenrobe enger um sich. Fünf Jahre hatte sie unter den Menschen verbracht und gelernt, eine Heilerin zu sein. Sie hatte sich an die Welt der Menschen gewöhnt, vielleicht sogar zu sehr. Möglicherweise erklärte das, warum Astolar auf ihre Seele so kalt und fern wirkte. Sie würde lernen müssen, es wieder zu lieben.
Hinter sich hörte sie die vorsichtigen Schritte ihrer Haushälterin und das Klirren von Porzellan auf der Glasplatte des Tisches, als das Frühstück serviert wurde, doch sie drehte sich nicht um. Sie hatte keinen Appetit. Nächste Woche würde sie als Erbin des Hauses Elindorien vor den Zehn stehen, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch, die seit ihrer Abreise von den Inseln noch spürbarer geworden waren, ließen keinen Raum für Speisen.
Ohne den geringsten Laut durchbrach ein geschmeidiger Kopf den Wasserspiegel, kleiner als der eines Kindes und mit dunklem Fell bedeckt. Das Geschöpf hatte eine spitze Schnauze, und die winzigen Ohren weit hinten am Schädel waren beinahe unter dem Pelz verborgen. Große schwarze Augen beobachteten sie.
Herrin? , fragte eine Stimme in ihrem Kopf.
»Guten Morgen«, sagte sie.
Herrin! Der Kopf verschwand im Wasser und tauchte wenige Augenblicke später am Rande der Terrasse wieder auf. Die Herrin ist zurückgekehrt! Weitere Köpfe wurden aus dem Wasser gestreckt und scharten sich um den ersten. Nettigkeiten? Habt Ihr Nettigkeiten mitgebracht, Herrin? Wir lieben Nettigkeiten. Wir lieben Euch. Wir haben Euch vermisst!
»Ihr habt mich gestern gesehen. Das ist nicht sehr lange her.«
Wir haben Euch trotzdem vermisst .
Tanith musste lächeln. Die Saelkies hatten ein genauso schlechtes Zeitgefühl wie kleine Kinder; für sie war eine Stunde so lang wie eine Woche und ein Jahr so kurz wie ein Tag.
Sie kniete sich auf die taufeuchten Steine und streckte die Hände nach ihnen aus. »Ich habe euch auch vermisst, meine Kleinen.« Die Saelkies stießen einander an in dem Versuch, der Erste zu sein, der gestreichelt wurde, und streckten ihr die Köpfe entgegen wie kleine Kätzchen, wobei sie fröhlich zirpten. »Keine Nettigkeiten heute. Ein andermal, ja? Aber ich habe etwas, was sogar noch besser ist. Wisst ihr, was es ist?«
Süßigkeiten! , sangen sie im Chor und hüpften im Wasser auf und ab.
Sie stand auf und ging zu dem Tisch, auf dem das Frühstück für sie bereitet war. Auf ihrem Teller lag ein süßes Zimtbrötchen, das sie in Stücke brach, eines für jeden Saelkie, und in den See warf. Glatte dunkle Leiber tauchten geschmeidig wie Otter nach den Brocken.
»Du solltest sie nicht ermuntern.«
Ailrics Stimme war voll und sanft wie ein Becher mit gebuttertem Rum und wärmte sie bis ins Innerste. In den drei Jahren, seit Tanith sie zum letzten Mal gehört hatte, hatte sie nichts von ihrer berauschenden Wirkung verloren. Sie zwang sich, einen kühlen Kopf zu behalten, und drehte sich um.
Der hohe Kragen und der taillierte lange Mantel betonten seine schlanke Gestalt, und das kühle Jadegrün des Hauses Vairene passten so gut zu seiner goldenen Haut. Er trug sein blassblondes Haar noch lang, hatte es aber aus dem Gesicht gestrichen und sauber schneiden lassen. Der ungekämmte, herzerweichend schöne junge Dichter war verschwunden. Der Mann, der von dem geöffneten Wandschirm eingerahmt wurde, war so vollkommen geformt und poliert wie die Statuen in den Palastgärten.
Nur seine Augen waren unverändert. Sie hatten die Farbe von Feuer, funkelten und versprachen ihr, sie zu verbrennen, wenn sie ihm zu nahe kam.
»Ich mag die Saelkies«, sagte sie und war von ihrer festen Stimme überrascht. »Ich finde sie kurzweilig.«
»Ich empfinde sie als Ärgernis.«
Sie lächelte. »Vielleicht solltest du sie nicht andauernd ausschimpfen, denn dann würden sie dir keine toten Fische in die Schuhe legen.«
»Wenn sie mir keine toten Fische in die Schuhe legen würden, gäbe es keinen Grund, sie auszuschimpfen.« Er kam auf sie zu und streckte die Hände nach ihr aus. »Ich bin froh, dass du zu uns zurückgekommen bist. Astolar hat sich ohne dich so leer angefühlt.«
»Es tut gut, wieder zu Hause zu sein.« Tanith hielt den Kopf schräg und erwartete seinen Kuss. »Du siehst großartig aus.«
»Und du siehst sogar noch besser aus, als ich dich in Erinnerung hatte«, sagte er und drückte ihre Finger. »Bitte verzeih mir, dass ich nicht hier war, um dich bei deiner Ankunft zu begrüßen. Ich hatte etwas auf unseren Besitzungen im Norden zu
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