Die wilden Jahre
spürte, wie ihn der Haß verließ.
»Gut«, sagte der Mann, dem nur noch ein paar Stunden Zeit zum Leben blieben, »ich bin schuld am Tod Ihres Vaters.« Er sprach jetzt, als deklamiere er einen auswendig gelernten Text: »Ich bin vielleicht auch mitschuldig am Tod Martins.« Er schwieg, wie erschöpft von einer Regung des Gewissens, das lange Jahre verschüttet war.
»Und damit, meinen Sie«, sagte Felix halblaut, »könnten wir den Fall abschließen und wären quitt.«
Der alte Ritt hob langsam den Kopf. Sein Blick tastete sich an der Wand entlang zu dem Besucher hin.
»Heute noch nicht«, entgegnete der Gefangene, »aber – vielleicht morgen …«
Felix kostete die Bitternis eines Sieges, der ihm gestohlen wurde; an seinem versteinerten Haß hing das Mitleid wie ein Bleigewicht.
»Es war schlimm, was mir alles zugestoßen ist«, sagte der Mann mit der toten Stimme, »aber vielleicht – vielleicht habe ich Ihnen jetzt sogar – zu danken …«
Felix atmete schwer. Er spürte, daß der Mann wuchs – während er zu schrumpfen schien. Es fiel ihm schwer, weiterhin sein Opfer anzusehen, dessen Gesicht schon still wie ein Friedhof wirkte, mit leblosen Zügen.
»Okay«, sagte Felix und winkte den Posten herbei, der während des Gesprächs mit stupider Miene auf einem Stuhl gesessen hatte und jetzt mit den Schlüsseln und Handschellen wieder zu dem Mann in der Rotjacke trat.
Jetzt, dachte Felix. Er stand und schwankte, hoffte und verzagte, wehrte sich und wartete: auf einen Bestechungsversuch, auf Erniedrigung, auf einen Ausbruch des Zorns.
Der Alte machte es ihm schwer. Er streckte seinem Bewacher die Arme entgegen wie ein Kind, das der Mutter beweisen will, daß es sich vor Tisch die Hände gewaschen hat.
Die Handschellen klickten ein.
Wenn Ritt jetzt etwas sagen würde, überlegte Felix, wenn er mich jetzt um Verzeihung bäte, wenigstens für Martin, wenn er jetzt ein rechtes Wort fände, eine gute Geste zeigte, dann würde ich umfallen, neun oder zehn Stunden vor seinem Ende, und müßte ich den Strick selbst durchschneiden.
Felix beugte sich vor, erschrocken und gespannt.
Friedrich Wilhelm Ritt nickte. Ohne den Sohn seines Opfers noch einmal anzuschauen, folgte er willig und gebeugt dem Posten. Der junge Captain starrte ihm noch nach, als er schon gegangen war und sich die Falltür dieses Lebens bereits geschlossen hatte.
Felix fuhr los, ohne sich von dem Kommandanten zu verabschieden. Er fürchtete die Leere des Raums, den der Haß gefüllt hatte. Er hatte Ritt vernichten müssen, um das Bild der brennenden Synagoge loszuwerden. Aber er fürchtete, daß ihn nun eine andere Vision verfolgen würde: der Mann mit dem Friedhofsgesicht, der morgen früh die dreizehn Stufen des Blutgerüstes hinaufsteigen mußte.
Der Captain parkte den Wagen vor dem Hotel und fand Susanne in dem Nebenzimmer. Sie hatte den Kopf auf die Arme gestützt, auf ihrem Gesicht lag eine Zeitung. Er zog sie vorsichtig weg. Susanne erschrak, dann sagte sie leise, zu den stillen Frauen schauend, die in ein paar Stunden Witwen sein würden:
»Ich kann das nicht sehen. Ich will nicht hier bleiben. Keine Stunde. Können wir nicht weg?«
»Sofort«, entgegnete Felix.
Sie fuhren ab. Jetzt war er froh, daß sie bei ihm geblieben war. Er wollte nicht allein sein in dieser Nacht. Er spürte, daß er sich betrinken mußte. Wie immer würde der Schnaps alles schlimmer machen, steigern, verzerren, enthüllen.
Susannes Hand lag auf seinem Arm.
»Es war – schlimm?« fragte sie behutsam.
Er schwieg. Seine Lippen lagen so fest aufeinander, daß sie schmal wurden, gerade. »Susanne«, fragte er später, »bleibst du heute bei mir?«
»Wenn du willst?«
»Und deine Eltern?«
»Trotzdem.«
»Danke«, sagte Felix. Es klang, als schäme er sich.
X
Als sich die Schranke des amerikanischen POW-Camps bei Reims im Mai 1947 hob, spürte der entlassene Kriegsgefangene Martin Ritt ein Gefühl, das seinen ganzen Körper erfaßte, auf der Haut prickelte, in seine Lunge schnitt und in seinen Schläfen klopfte.
Es war ein trockener Rausch, ein nüchterner Wahn.
Er wollte stehenbleiben, ein dicklicher MP-Soldat stieß ihm mit mittlerer Wucht seinen Gewehrkolben in den Rücken. Martin lächelte: die neue Freiheit hatte ihm die Hand gereicht. Er ging weiter, gefühllos gegen den Schmerz. Er mußte wieder nach hinten sehen, mußte die Gesichter seiner Bewacher betrachten, von der Langeweile des Militärlebens genormt.
Das Mitleid, das er für
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