Die wilden Jahre
»Als ich im Lazarett verwundet unter der Sauerstoffmaske lag und nach drei Tagen zum Bewußtsein kam, sah ich keine Schwester, hörte keinen Arzt, achtete ich nicht auf die Diagnose: ihn sah ich, fahlgelb, betrunken und randalierend in dieser Mostrichuniform. So sah ich ihn im Kriegsgefangenen-Camp, auf der Fahrt hierher. Wegen dieses Bildes habe ich mich auf die Heimkehr gefreut. Wir – wir sind Zwillingsbrüder des Hasses, mein Lieber …«
Martin blickte nach draußen, als betrachte er die schwefelgelben Blitze, denen der Donner in weiter Entfernung folgte.
»Zurück zur Sache: Wenn wegen dieses Urteils einer mit dir hadern kann, dann bin ich es. Du hast mich um die Abrechnung gebracht. Du hast mir den Wahn vieler Jahre genommen. Verstehst du das? Einem Toten gegenüber habe ich keinen Haß mehr. Er ist mir so fremd wie Millionen andere, die in diesem Krieg umgekommen sind, schuldig und unschuldig, einer neben dem anderen.«
Felix sah zu Martin auf, ungläubig, betroffen, gebannt, fasziniert.
»Im übrigen schaue ich nicht mehr nach hinten«, erklärte Martin, »sondern nach vorn. Mein Vater ist tot, und mit ihm ist unser Problem gestorben, und ich möchte nie mehr über diese Sache sprechen. Haben wir uns verstanden?«
Felix lächelte dünn. Die Falten in seinem Gesicht wirkten wie die ersten Sprünge auf einer Eisfläche.
»Es geht auch gar nicht um unsere Väter«, fuhr Martin fort, »sondern um uns. Allenfalls ist die Frage zu klären, ob ein Captain der amerikanischen Armee und ein Entlassener der deutschen Wehrmacht Freunde sein können. Kapiert?«
Martin riß die Fenster auf.
Von draußen strömte saubere, vom Regen gewaschene Luft in den Raum und nahm ihm die brackige Schwüle. Die Sonne brach durch die abziehenden Wolken. Der Tag wurde wieder licht; die Bäume im Garten glänzten im neuen Grün.
Die beiden Freunde standen nebeneinander und betrachteten schweigend den Regenbogen in seinen phantastischen Farben, der wie eine Traumbrücke war, die sie tragen würde. Ihre Gesichter waren entspannt, ihre Hände ruhig.
Das Gewitter hatte den Tag gesäubert.
XIII
Durch nichts ließ Martin in den nächsten Wochen erkennen, daß er am Anfang einer Karriere stand, die von der Boulevardpresse später als ›ein märchenhafter Aufstieg ohne Beispiel‹ gefeiert werden sollte.
Er gewöhnte sich an die wortreichen Tiraden der Frau Brenner, seiner Quartiergeberin; sie plädierte stets für ihren Mann, einen städtischen Oberinspektor, der fristlos aus dem Dienst entlassen worden war. Ihr Mann, so führte sie aus, hätte unter der braunen Bewegung gelitten und wäre seiner Familie zuliebe 1937 in die Partei eingetreten, lediglich, um Beiträge zu entrichten. Sei das ein Grund, ihn aus dem Amt zu entfernen?
Martin verneinte.
Es waren Gespräche, die an jeder Straßenecke, an jedem Schalter, auf jeder Anklagebank zu hören waren. Überall beteuerten Menschen ihre politische Unschuld, auf ihr schweres Schicksal verweisend; und das Tragische war, daß viele von ihnen recht hatten. Im Netz einer oberflächlichen, summarischen Säuberung blieben vorwiegend die kleinen Fische hängen, denn die Hechte lagen auf Grund oder Untergrund.
Martin war nach Frankfurt zurückgekehrt, um seine Übersiedlung nach München vorzubereiten, wo ihm Felix eine Wohnung beschaffen wollte. Das gesamte Vermögen des alten Ritt unterstand der Property Control, der amerikanischen Vermögensverwaltung. Über einen befreundeten US-Major wollte Felix versuchen, zunächst wenigstens das persönliche Eigentum des Freundes freizubekommen.
Bis dahin saß Martin untätig in Frankfurt herum, warf Rothauch, den lästigen Mitschüler, der Bescheinigungen für sein Spruchkammerverfahren sammelte, hinaus, schlief unter dem Bild Erwins, des Gefallenen, das mit Wachsblumen geschmückt war und ihm zulächelte. Erwin und Martin wurden Kameraden des Zufalls.
Das Leben der Familie Brenner war streng geordnet. Zuerst kam der Kirchenbesuch. Der Oberinspektor war auch während des Dritten Reiches zur Kirche gegangen, aber was er damals verstohlen getan hatte, demonstrierte er jetzt.
Nicht nur er. Auch andere, die früher dem Gottesdienst ferngeblieben waren, betonten jetzt ihr Christentum. Die Kirchentüren öffneten sich weit wie Scheunentore, in die die Ernte eingefahren wurde: mancherlei Fallobst war darunter, das bald von beflissenen Winzern zum Most der Macht vergoren werden sollte.
Dieser Andrang verbitterte den städtischen Oberinspektor
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