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Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)

Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)

Titel: Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schmid
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Jacke, schwang sich über die Mauer und schlitterte die abschüssige Wiese hinunter.
    Die entlaufene Ziege galoppierte schnurstracks auf die Berghütte zu. Lilli wollte gerade durch die Zähne pfeifen, hielt aber mittendrin verunsichert inne. Auf der Holzbank unter dem Fenster der Hütte lag eine menschliche Gestalt.
    Die Ziege verlangsamte ihr Tempo, trabte auf die Hütte zu und stakste schließlich ganz gemächlich zu einem Brunnen, der dem auf der Hadersdorfer-Alm zum Verwechseln ähnelte. In rascher Folge streckte Milli ihre Zunge in den Wasserfaden und unterbrach dadurch das gleichmäßig plätschernde Geräusch des sich in einen ausgehöhlten Baumstamm ergießenden Quells. Unentschlossen blieb Lilli auf halber Höhe zwischen der trinkenden Ziege und der reglosen Person auf der Bank stehen und verscheuchte eine Biene, die um ihren Lockenkopf schwebte. Die Biene flog davon und verschwand in einem kleinen Bienenhaus, das seitlich an die niedrige Scheune gebaut war. Lilli schlich ein paar Schritte näher und erkannte in der Person auf der Holzbank die Frau aus dem Bus wieder. Der knorrige Wurzelstab der Alten lehnte an der Wand, ihr breitkrempiger Hut lag mit der Öffnung nach oben auf dem Boden, als wäre er ihr soeben vom Kopf gefallen. Die nackten Füße ragten blau geädert aus einer viel zu weiten Herrenhose und ein Vorhang aus weißlich gelben Haarsträhnen überzog ihr faltiges Gesicht. So, als hätte sie sich eben noch unter Bauchschmerzen gekrümmt, hatte sie die Knie an den Leib gezogen. Sie ist tot, dachte Lilli, und dieser eine Gedanke war so groß, dass er alle anderen Gedanken erstickte. Lilli nahm all ihren Mut zusammen und näherte sich der Bank. Noch immer konnte sie an der Frau nicht die geringste Bewegung wahrnehmen. Wie ferngesteuert beugte Lilli sich über den Körper, um Atemgeräusche zu erlauschen. Gerade wollte sie ihr Ohr über den halb geöffneten Mund drehen, da schlug die Alte die Augen auf. Für den Bruchteil einer Sekunde gab es nur schreckensstarre Augen: Lillis schreckensstarre grüne und die schreckensstarren quecksilbrigen der Alten. Dann krächzte die Frau irgendetwas Unverständliches und fuhr in die Höhe. Gleichzeitig schnellte Lilli hoch und verlor das Gleichgewicht. Sie torkelte nach hinten, fiel auf den Rücken und bekam keine Luft mehr.
    »Was willst du hier?« Mit ihrem Wurzelstab fuchtelte die alte Frau vor Lillis Gesicht herum.
    »Milli!«, stammelte Lilli und rappelte sich auf. »Die Ziege!«
    »Lilli?«, ertönte jetzt von der Mauer her Enyas Stimme. »Ist alles in Ordnung?« Lilli hatte vor Aufregung ganz vergessen, dass sie nicht allein unterwegs war.
    Die Alte hob ihren Hut auf. »Das ist doch eine Hadersdorfer-Ziege?« Missmutig zeigte sie mit dem Hut auf Milli.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung!« Enya grüßte die alte Frau höflich und erklärte, wer sie und Lilli waren. Gleichzeitig packte sie Milli am bestickten Lederhalsband und entfernte sich rückwärtsgehend.
    Lilli wollte ihr gerade folgen, als plötzlich etwas im Innern der Hütte ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Sonne schien schräg durch das Fenster und erleuchtete eine Ecke der ansonsten finsteren Stube. Lilli machte zwei rasche Schritte und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. Sie hatte sich nicht getäuscht! In einem holzgetäfelten Winkel hingen ein Kruzifix und das Foto, dessen Anblick Lilli jetzt so sehr fesselte, dass sie weder die Worte Enyas noch die der alten Frau hinter sich hörte.
    Von dem Foto lachte Lilli ein junger Mann entgegen. Seine Hand berührte ein Gipfelkreuz und seine welligen Haare hingen ihm ins Gesicht. Lilli durchstöberte ihr Gehirn nach seinem Namen. »Antonio Kofler!«
    »Weg da, Göre!« Die dürre Hand der alten Frau zerrte mit erstaunlicher Kraft an Lillis Schulter. »Da gibt’s nichts zu sehen!«
    »Das ist Antonio!« Klopfenden Herzens deutete Lilli zum Fenster. »Ist er doch, also, war er, oder … Er ist ja verunglückt und, ich meine, also, er ist es doch …« Schon wieder stotterte Lilli.
    Die alte Frau stieß sie von der Hütte weg. »Das geht dich einen feuchten Dreck an!« Sie beschrieb mit dem Wurzelstab einen Bogen, der dem Verlauf der Mauer folgte. »Das hier ist mein Land!« Sie schüttelte den Stock. »Haut ab, oder ich …!« Sie vollendete die Drohung nicht, aber ihre Augen funkelten so böse, dass Lilli unwillkürlich zurückwich.
    »Nichts wie weg hier!«, flüsterte Enya und zog mit der einen Hand Lilli, mit der anderen Milli mit sich

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