Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)
auf die knorrige Wurzel, die er gerade selbst ins Wasser geworfen hatte.
Lilli machte ein entsetztes Gesicht, lachte und fuhr dann wirklich vor Schreck zusammen. Ein Blitz zuckte über den inzwischen bleigrauen Himmel, ein Donnerschlag knallte und hallte mehrmals wider. Erste schwere Tropfen klatschten ins Wasser und bildeten Wellenkreise auf dem See, der jetzt fast schwarz aussah.
»Ein Unwetter!«, rief Lilli in das Prasseln des mit voller Wucht einsetzenden Wolkenbruchs.
»Wir müssen zur Schutzhütte!« Nasse Haarsträhnen hingen Ole ins Gesicht. »Komm!« Ole wies in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Lilli zögerte.
»Worauf wartest du?«
»Hier lang ist es kürzer!« Lilli lief weiter – sie hatten den See ja schon fast umrundet – und Ole folgte ihr. Gleich müssten sie den Felsen, auf dem sie ihre Brotzeit gemacht hatten, wieder erreichen.
Aber im niederrauschenden Regen sah nichts mehr aus wie vorhin. Die Zweige der Bäume peitschten im Wind.
Es kam Lilli vor, als würden sie schon seit einer halben Ewigkeit durch den Wald irren. Ein Wunder, dass sie noch nicht vom Blitz getroffen worden waren!
»Wir müssen aus dem Wald raus«, schrie Ole gegen das Brausen an. »Da lang!« Er riss Lilli an der Hand mit sich. »Da vorne ist ein Wegweiser!«
Aber schon nach ein paar Schritten stellte sich heraus, dass es sich nicht um einen Wegweiser handelte, sondern um ein steinernes Flurkreuz.
Ole versuchte, sich zu orientieren, und schlug eine andere Richtung ein. »Hier ist eine Schneise!« Verbissen stapfte er davon. »Komm weiter, Lilli!«
Lilli aber blieb vor dem Kreuz stehen und fuhr mit zitternden Fingern über die eingemeißelten Buchstaben. »Antonio Kofler«, murmelte sie tonlos. Unter dem Namen standen in kleinerer Schrift die Worte
Tödlich verunglückt
und das gleiche Datum wie auf der Rückseite des Fotos, das Lilli vom Staigerhof kannte.
Wasser troff aus Lillis Locken und sie bibberte. Wieder fuhr eine Windböe durch den Wald. Die Tannenzweige wogten.
Ole kam zurück. Lilli verstand nicht, was er sagte, ließ sich aber von ihm fortzerren.
Bis auf die Knochen durchnässt erreichten sie den Waldrand und sofort erfasste Lilli eine irre Hoffnung. Flackerte da am Ende der vor ihnen liegenden Almwiese nicht ein Licht? »Die Hadersdorfer-Alm!«, schrie sie in den Regen.
Ole schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein!«
Lilli wollte seinen Zweifel nicht wahrhaben, aber im gleichen Moment erkannte sie zwischen den Regenvorhängen eine Steinmauer. Vor ihnen erstreckte sich der Windbruch.
Das Licht war kein Irrtum. Auch wenn es nicht auf der Hadersdorfer-Alm leuchtete, sondern in der Schraderhütte.
Lilli und Ole durchquerten den Windbruch und kletterten über die Steinmauer.
Vor lauter Erschöpfung starrten sie fast willenlos auf die Laterne, die in dem kleinen Fenster brannte. Mit letzter Kraft liefen sie die letzten Schritte bis unters Dach und klopften zaghaft an die Tür der Hütte.
Tropfnass standen Lilli und Ole in der kleinen Stube. Lilli war so erschöpft, dass sie Ole reden ließ. Er erzählte vom See und wie sie sich verirrt hatten. Die Ofentür stand offen und Lilli stierte in die rote Glut. Sie streckte die Arme nach der Wärme aus, die das Feuer abstrahlte, und machte wie eine Mondsüchtige einen Schritt darauf zu. Sie drehte sich vor dem Ofen um, angenehm kroch ihr die Wärme den Rücken herauf. Dort, wo sie eben noch neben Ole gestanden hatte, befand sich jetzt eine Pfütze auf dem Dielenboden. Auch unter Ole bildete sich eine Lache.
»Ihr müsst raus aus den nassen Sachen.« Die alte Frau verschwand durch eine niedrige Tür in einem Nebenraum. Man hörte sie kurz herumkramen, dann kam sie mit einem Handtuch und ein paar Kleidungsstücken im Arm zurück.
»Dich kenn ich doch!« Sie reichte Lilli das Handtuch und musterte sie mit ihren quecksilbrigen Augen. »Du hast mich neulich fast zu Tode erschreckt!«
Lilli musste einen Lacher unterdrücken, schließlich hatte sie die alte Frau für tot gehalten und war selbst wohl mindestens genauso erschrocken. Jetzt war sie ganz froh, dass hier eine lebendige Fanni wohnte, in deren Ofen ein Feuer brannte.
»Entschuldigung«, murmelte Lilli.
»Umdrehen!«, kommandierte Fanni.
Erst kapierte Lilli nicht, was sie meinte, aber Ole war schneller von Begriff. Er drehte sich um und Lilli zog sich bis auf die Unterhose aus, trocknete sich mit dem Handtuch ab und schlüpfte in das Nachthemd, das Fanni ihr hinhielt.
»Den auch noch!«
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