Die Wilden Küken - Auf der Alm (German Edition)
Fanni stülpte Lilli einen Strickpulli über, der ihr bis an die Knie reichte.
»Und jetzt du!«, befahl die alte Frau an Ole gewandt.
Sie reichte Lilli ein paar Scheite, die Lilli auf Fannis Geheiß hin ins Feuer schob. Als sie sich wieder aufrichtete, stand Ole in einem altmodischen Männerschlafanzug vor ihr und rubbelte sich mit dem Handtuch die Haare trocken.
»Sicher suchen die anderen euch schon!« Fanni verschränkte die Arme. »Vielleicht haben sie sogar die Bergwacht gerufen!«
»Hoffentlich geht das Ding noch«, sagte Ole mehr zu sich selbst und wühlte sein Walkie-Talkie aus dem Rucksack. Er schaltete es ein und ein winziges grünes Lämpchen blinkte.
Ole erreichte seinen Bruder per Funk und erklärte ihm die Lage. Dann drang etwas abgehackt Gelatinos Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. Ein paar Minuten später und Gelatino wäre zum Staigerhof abgestiegen, um den Staiger Sepp zu bitten, einen Suchtrupp zusammenzustellen. Gelatino schimpfte kurz unverständlich und verlangte dann mit Fanni zu reden. Ole wollte Fanni das Gerät hinhalten und die Sprechtaste für die alte Frau bedienen, aber sie nahm ihm das Funkgerät aus der Hand. »Ich war jahrelang bei der Bergrettung!« Sie wechselte in breitem Dialekt ein paar Sätze mit Gelatino. »Alles klar, Schorschi. Over und Ende!«
Sie schaltete das Walkie-Talkie aus und gab es Ole zurück, der beeindruckt nickte.
Lilli hatte nur einen Bruchteil von dem verstanden, worüber Fanny und Gelatino geredet hatten, aber eines war ihr klar. Nämlich, wo sie und Ole diese stürmische Nacht verbringen würden: in der Schraderhütte.
Fanni setzte einen Topf Milch auf die Ofenplatte und rückte den Tisch in die Ecke. Dann zog sie die Sitzpolster von der Eckbank auf den Boden. Sie ging wieder in den Nebenraum und von dort in einen an die Hütte angebauten Schober, bevor sie mit zwei heugefüllten Bettbezügen zurückkehrte.
Die kleine alte Frau, Lilli und Ole mussten sich bücken, wenn sie unter der Wäscheleine hindurchwollten, die quer durch die Stube gespannt war und an der Lillis und Oles Kleider trockneten. Fanni legte die Bettbezüge vor der Eckbank auf den Boden. »Nicht zu nah ans Feuer damit!«, warnte sie und warf zwei Deckenbündel dazu. Dann goss sie die heiße Milch in drei Tassen und rührte löffelweise Honig hinein.
Fanni setzte sich auf den einzigen Stuhl und drehte die Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand, ein wenig heller.
Lilli und Ole hockten sich auf das nach Sommer duftende Heulager. Mit beiden Händen hielt Lilli die Tasse fest. Sie pustete in den aufsteigenden Dampf, schlürfte einen Schluck und stellte voller Verwunderung fest, wie lecker warme Honigmilch sein konnte. Draußen heulte der Wind und im Ofen knisterte und knackte das Feuer.
Am Tisch trank Fanni ihre Tasse leer. Schluck für Schluck. Konzentriert und wortlos. Lilli stellte sich vor, wie das sein musste, Jahr um Jahr alleine hier oben zu leben. Heu ernten, Tiere versorgen, Milch trinken. Eine ungeheuerliche Woge von Heimweh überspülte sie. Papa und Luisa auf dem Sofa, das Baby im warmen Bauch, Sneaker auf Lillis Fransenteppich. Lillis Zimmer und Lillis Bett. Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Aber da spürte Lilli Oles Schulter an ihrer. Er war ein Stück Heimat, das sie dabeihatte. Ganz leicht lehnte sie sich ein kleines bisschen gegen ihn.
Fanni stellte die leeren Milchtassen beiseite und verriegelte die Ofentür. Lilli blickte in die Kerzenflamme der Blechlaterne, die auf dem Fensterbrett stand. Ohne dieses Licht im Fenster würden Lilli und Ole immer noch durch den Regen irren.
Lillis Blick fiel auf das Foto oben in der Ecke neben dem geschnitzten Kruzifix. Antonio Kofler. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Flurkreuz mit der Inschrift auf und das Foto mit dem Trauerflor am Rahmen. Und plötzlich befand sie sich in Gedanken wieder in Herrn Staigers Bergmuseum. Wieder sah sie das Gipfelbuch vor sich und las die alte Handschrift auf dem fleckigen Papier.
In Liebe vereint. Franziska und Antonio.
Lilli fuhr sich übers Gesicht und war wieder zurück in Fanni Schraders Hütte. Fanni Schrader, schoss es ihr durch den Kopf. Fanni – das ist die Abkürzung für: »Franziska!« Lilli hielt sich die Hand vor den Mund. Hatte sie das jetzt laut gesagt?
Fanni sah Lilli lange an und ließ ihre Augen dann zu Antonios Foto wandern. »Wir haben uns beim Erntedankfest verliebt!«, sagte sie leise. »Von da an ist Antonio jeden Sonntag aus dem Nachbartal zum alten
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