Die Wildkirsche. Erotischer Roman
Amtsstube des Stadtrats statt, die mehrere Stunden dauerte, ehe eine Entscheidung getroffen wurde. Julien dachte über die neue Situation nach. War er wirklich der Sohn des Comte de Laquises? In der Tat war ihm der Graf bereits bei dessen Geburtstagsfeier vertraut erschienen. Wenn es also stimmte, so konnte er nur hoffen, dass sich de Laquises zu ihm bekannte!
Als sein Wärter die Zelltür öffnete, schlug Juliens Herz bis zum Hals. Würde man ihn erneut auf das Schafott führen? Dann aber erblickte er hinter dem bulligen Mann zwei vertraute Gestalten.
»Du darfst gehen«, grollte der Wärter und öffnete die Schlösser der eisernen Schellen.
Julien erhob sich von seinem Strohlager, eilte zu Lorraine und schloss sie in die Arme.
»Machen wir uns auf dem Heimweg«, sagte Beaumont und schritt voran.
Gemeinsam verließen sie das Gefängnis, vor dem sich die Bürger Gagnions versammelt hatten. Richter Chambien hatte das revidierte Urteil bereits verkündet. Nicht alle jubelten ihm zu, doch die meisten begrüßten die Entscheidung.
Ein in einen langen Mantel gehüllter Mann kam eiligen Schrittes auf Julien zu, drängte sich an den Leuten vorbei und blieb schließlich vor ihm stehen.
»Der Comte wünscht Sie zu sprechen, Monsieur. Wenn Sie mir bitte folgen mögen?«
Julien entdeckte die edle Karosse des Grafen in einer Seitenstraße des großen Platzes.
»Ihre Begleiter dürfen selbstverständlich mit Ihnen kommen. Es ist genügend Platz in der Kutsche«, sagte der Kutscher und bahnte sich erneut einen Weg durch die Menge.
Julien half Lorraine und Beaumont beim Einsteigen und nahm am Fenster gegenüber dem Comte Platz, der die Hände auf einen Spazierstock stützte.
»Lass dich ansehen«, sagte der Graf und legte beide Hände auf Juliens Schultern. Er blickte ihm tief in die Augen, als suchte er in ihnen nach etwas. Dann nickte er schließlich und wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich erkenne in dir den kleinen Javier. Ich danke Gott, dass er dich mir zurückgeschickt hat.«
»Auch ich erinnere mich wieder an Euch ... an dich«, sagte Julien.
Der Comte lehnte sich zurück und betrachtete Juliens Begleiter. »Ich nehme an, unsere Familien werden in absehbarer Zeit zusammenwachsen.« De Laquises bedachte Lorraine mit einem wissenden Lächeln.
Lorraine errötete und wich dem Blick des Grafen aus.
»Ich verdanke Ihnen beiden viel«, sagte der Graf. »Sie haben aus meinem Sohn einen wunderbaren Menschen gemacht. Gehen Sie davon aus, dass ich mich erkenntlich zeigen werde. Ich hörte, der werte Herr Doktor möchte eine Schule gründen, doch fehlt es an finanzieller Unterstützung?«
»Das ist richtig«, antwortete Beaumont. »Doch ist dies nicht der rechte Moment, um über solche Dinge zu sprechen. Ihr werdet sicher viel mit Eurem Sohn zu besprechen haben. Er wird sich Eurer Familie gewiss als würdig erweisen.«
»Sie haben recht. Wir haben viel nachzuholen. Dennoch sollen Sie wissen, dass ich wiedergutmachen möchte, was de Faucet Ihnen und Javier angetan hat.«
»Das ist sehr freundlich, Euer Hochgeboren.«
De Laquises nickte zufrieden, blickte dann aus dem Fenster und gab dem Kutscher ein Zeichen.»Nach Hause, Raoul! Nach Hause.«
EPILOG
Mercure de France, November 1755
Schrecklicher Mordfall in der Familie de Laquises nach Jahren aufgeklärt
... Die Wahrheit über Javier de Laquises' Vergangenheit und den Tod seiner Schwester Camille ist Wochen nach seiner Freilassung ans Tageslicht gekommen. Nach und nach kehrten seine Erinnerungen zurück und ergaben eine grausige und tragische Geschichte. Amaury de Faucet, der viel geschätzte Schwager des Comte des Laquises, begehrte dessen Tochter Camille. Weil sie sich ihm verweigerte, fühlte er sich in seinem Stolz verletzt und erwürgte sie in seinem Zorn während eines Spaziergangs im Wald von Gagnion, ohne zu ahnen, dass der damals vierjährige Javier ihnen gefolgt war. Der Knabe versuchte einzuschreiten und wurde dabei von de Faucet am Hals verletzt. Der Junge konnte in den Wald flüchten und wurde seitdem nicht mehr gesehen. Dem Comte machte de Faucet Glauben, Räuber hätten seine geliebten Kinder auf dem Gewissen. Als de Faucet in dem ›Wilden von Gagnion‹ unlängst Javier de Laquises erkannte, versuchte er einen Mordanschlag auf den legitimen Erben des Comte de Laquises und entführte zu diesem Zweck die Tochter des Arztes Beaumont. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass Javier de Laquises einzig aus Notwehr gehandelt haben konnte und somit
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