Die Wildkirsche. Erotischer Roman
anlegen«, bat Julien.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer. Solch eine Entwicklung hatten die Gagnoniens nie zuvor bei einer Hinrichtung erlebt. Aber dies war auch kein gewöhnlicher Fall!
Der Henker reichte Lorraine die Hand und half ihr die Treppe hinauf. Sie stellte sich vor Julien und blickte ihm traurig in die Augen. Tränen rannen ihre Wange hinab. Mit schimmernden Augen blickte er sie an. Auch ihm war zum Weinen zumute. Als er die Lider schloss, traten Tränen in seine Augenwinkel, die sie mit dem Tuch zärtlich fortwischte. Julien fühlte den Trost, der in ihrer Berührung lag, doch zugleich spürte er seine Furcht, Traurigkeit und einen Schmerz, dessen Ursachen weit in seine Vergangenheit zurückreichte. Nun, in diesem Augenblick der Wahrheit, kehrten seine Erinnerungen an den Moment zurück, da ihm einst jemand mit diesem Tuch die Augen abgetupft hatte. Aus weiter Ferne vernahm er eine Stimme. Angestrengt lauschte er, um ihre Botschaft zu verstehen.
»Der Edle verneigt sich, doch er beugt sich nicht«, sagte er heiser.
»Was hast du gesagt?«, fragte Lorraine. Sie sah ihn verwirrt an.
»Der Edle verneigt sich, doch er beugt sich nicht«, wiederholte er, was die Stimme ihm geflüstert hatte.
»Er möge lauter sprechen«, forderte der Richter.
Juliens zusammengekettete Hände formten sich zu Fäusten. Dieser Satz war das Einzige, an das er sich aus seinem früheren Leben erinnerte. Irgendwann hatte ihm jemand, der ihm nahestand, diese Worte gesagt! Nun sollten sie ruhig alle hören.
»Der Edle verneigt sich, doch beugt sich nicht!«, rief er voller Stolz und wandte sich der nach Sensationen gierenden Menschenmenge zu.
»Wie war das?« Der Comte erhob sich mit totenbleichem Gesicht und lehnte sich über die Brüstung der Tribüne. »Wie kann er davon wissen?«
»Comte, bitte setzt Euch«, bat der Richter. »Das Urteil muss vollstreckt werden.«
»Nein! So wartet einen Augenblick!« De Laquises schritt die Treppe der Tribüne hinab und ging durch die Menge, die ehrfürchtig eine Gasse für ihn bildete.
»Ihr habt dies einst zu mir gesagt.«
Der Comte blieb abrupt stehen. »Es ist lange her, seit ich diese Worte aussprach. Ihr wart gewiss nicht in der Nähe.« »Ich war noch ein Kind. Ihr sagtet diese Worte zu mir, und eine Frau wischte meine Tränen fort mit diesem Tuch.« »Zeigt es mir! Ich muss es sehen.«
Lorraine reichte es ihm.
Mit zittrigen Händen nahm er das Schnupftuch entgegen, zeichnete die eingestickten Initialen mit dem Finger nach und blickte zu Julien. Tränen schimmerten in den Augen des Comte.
»Ich kenne dieses Tuch, es war ein Geschenk an meinen Sohn Javier. Wo hat er es her?«
»Es gehört mir. Es war schon immer in meinem Besitz.«
»Dann ... ist es also wahr?«
Unglauben spiegelte sich in den Gesichtern der Bürger, als sie die Worte des Grafen vernahmen.
»Comte! Es gibt keine Beweise, dass dieser Sträfling Euer Sohn ist,« knurrte der Richter ungehalten. »Selbst wenn er es wäre, ist es völlig unerheblich, da dieser Mann einen Mord begangen hat.«
»Amaury de Faucet wusste, dass dieser Mann Javier Ubert de Laquises ist!«, rief Lorraine in die Menge hinein. »De Faucet entführte mich, um Julien in eine Falle zu locken und zu töten.«
»Sie lügt!«, schrie Madeleine. »Zu solcher Gräueltat wäre de Faucet niemals imstande gewesen. Ich war dort und sah, wie diese grässliche Kreatur ihm das Genick brach!«
Die Menschen wurden unruhig. »Hängt ihn!« »Dieser Mann ist ein Mörder!« »Gebt ihn frei!«
»Ruhe!«, beschied der Richter.
»Es gibt weitere Beweise!«, sagte Julien. »De Faucet schrieb mir einen Brief, in dem er mich erpresste!«
»Wo ist dieser Brief?«, fragte der Comte.
»Er wurde beschlagnahmt, als man mich ins Gefängnis warf. Offenbar wurde er vom Hohen Gericht nicht zur Kenntnis genommen.“
Entschlossen wies der Graf den Henker an, dem Verurteilten den Strick abzunehmen.
»Euer Hochgeboren, was hat das zu bedeuten?«, fragten die Freunde de Faucets entrüstet, doch der Comte ließ sich nicht beirren.
»Dieser Fall verlangt nach einer erneuten Prüfung! Es wurden nicht alle Fakten berücksichtigt! Man wird die Hinrichtung aufschieben, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.« Robert de Laquises blickte sich um und fügte hinzu: »Richter Chambien, Doktor Beaumont und Sie«, er deutete auf Lorraine, »mögen mir zum Rathaus folgen.«
Während Julien zurück in seine Zelle geführt wurde, fand eine Unterredung in der
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