Die Wildkirsche. Erotischer Roman
ihres Vaters auf.
Julien hatte ein Stück Fleisch abgetrennt und steckte es sich in den Mund. Er sah noch immer unbeholfen aus. Zumindest hatte er das Prinzip verstanden und setzte es selbstständig um.
»Vielleicht ist es tatsächlich nicht das erste Mal, Papa. Wir wissen nicht viel über ihn. Möglicherweise durfte er mit den Gauklern an einem Tisch speisen?«
Beaumont wog den Kopf hin und her. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie haben ihn wie ein Tier in einem Käfig gehalten, warum sollten sie ihm Tischmanieren beibringen?«
Julien stieß laut auf und sprang von seinem Stuhl, da er offenbar keinen Hunger mehr hatte. Lorraine verzog das Gesicht und senkte den Blick auf ihr Essen.
»Nicht so schnell, Julien«, sagte Beaumont. »Du hast schon an deinem ersten Tag bei uns große Fortschritte gemacht. Den kleinen Zwischenfall in deinem Zimmer wollen wir vergessen. Aber noch bin ich nicht fertig mit dir.«
»Was hast du denn vor?«, fragte Lorraine neugierig, legte das Besteck zur Seite und sammelte das Geschirr, um es in die Spülschüssel zu legen.
»Ich will ihm zeigen, was einen Menschen ausmacht. Den aufrechten Gang.«
Beaumont erhob sich, stellte sich vor Julien und griff nach seinen Händen, um ihn vorsichtig hochzuziehen. Verwirrung und Unbehagen spiegelten sich im Gesicht des Wilden, als sich sein Oberkörper langsam aufrichtete. Anstatt den Rücken in eine senkrechte Position zu bringen, beugte er sich nach vorn und streckte den Po unnatürlich weit heraus, um das Gleichgewicht zu halten.
»Er hat sich so sehr an seine eigentümliche Körperhaltung gewöhnt, dass es ihm schwerfällt, den Rücken durchzudrücken.«
»Vielleicht kann ich helfen, Vater?«
Lorraine stellte sich hinter Julien, legte die Arme um seinen Brustkorb und drückte seinen Körper in die entgegengesetzte Richtung. Ein entsetzter Aufschrei drang aus Juliens Kehle, als Lorraine an ihm zog.
»Sieh doch nur, wie groß du plötzlich bist! Du überragst Lorraine und mich um mindestens einen ganzen Kopf!«, rief Beaumont.
»Kann ich ihn loslassen?«, fragte Lorraine, die den Hünen mit all ihrer Kraft stützte.
»Warte bitte noch einen Moment, er muss erst die Balance finden.«
Es war zu sehen, dass Julien die neue Körperhaltung nicht behagte. Er versuchte erneut auf alle viere zu gelangen, doch Lorraine hielt ihn zurück.
»Wagen wir die ersten Schritte.«Beaumont trat an Juliens Seite und klopfte auf dessen rechten Oberschenkel. »Schau zu mir, mach einen Schritt. Benutze das rechte Bein, dann das linke.«
Er machte die Bewegungen mehrere Male vor. Aber Julien schien einzig ein Interesse daran zu haben, sich möglichst schnell aus Lorraines Umklammerung zu befreien. In einem unbedachten Moment gelang es ihm, ihre Arme auseinanderzudrücken.
»Nicht doch!«, rief sie.
Da hockte er auch schon wieder auf allen vieren. Es dauerte einige Stunden, ehe sie Julien so weit hatten, dass er die ersten Schritte machte. Beaumont nahm seine Hand und führte ihn durch die Küche, gleich einem kleinen Kind, dem man das Laufen beibrachte.
»Sehr gut«, lobte der Doktor seinen Schüler.
Juliens Bewegungen waren unsicher. Mehrere Male drohte er das Gleichgewicht zu verlieren, was gewiss auch geschehen wäre, hätten ihn Lorraine und Beaumont nicht aufgefangen. Nach einigen Runden um den Tisch machten sie eine Pause, in der sich Julien erschöpft auf den Boden sinken ließ. Zur Belohnung gab ihm Lorraine eine Scheibe Wurst.
»Wir können zufrieden sein. Für heute hat Julien genug geleistet. Morgen machen wir weiter.«
Mit diesen Worten führte Beaumont den Wilden zurück in sein Zimmer. Lorraine kümmerte sich um den Abwasch, ging danach hinaus in den Vorgarten und setzte sich auf die kleine Bank. Überrascht stellte sie fest, dass noch immer einige schaulustige Gören am Gartentor standen und die Hoffnung, den Wilden zu Gesicht zu bekommen, nicht aufgegeben hatten.
»Müsst ihr nicht schon längst zu Hause sein?«, rief sie verwundert.
Als die Kinder Lorraine bemerkten, suchten sie rasch das Weite. Ein kühler Windstoß streichelte ihre Wange, und ein Regentropfen traf ihre Stirn. Schwarze Gewitterwolken schoben sich bedrohlich über die Stadt. Von einem Augenblick zum nächsten wurde es kühl. Lorraine rieb sich die fröstelnden Arme, doch sie versuchte die Kälte zu verdrängen. Erneut kreisten ihre Gedanken um Etienne. Mit wie vielen Frauen mochte er geschlafen haben? Und wie vielen hatte er einen Heiratsantrag gemacht? War sein
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