Die Wildkirsche. Erotischer Roman
drängte sich an der mitleiderregenden Gestalt vorbei und versuchte Lorraine vor dem Haus einzuholen, fasste ihren Arm und wirbelte sie herum. Aufmüpfig sah sie zu ihm empor und pustete eine braune Locke aus dem Gesicht.
»Kümmere dich besser um deine Kundschaft!«, sagte sie ärgerlich, riss sich los und lief die Straße hinauf.
6. KAPITEL
Als Lorraine das Gästezimmer aufschloss, erwartete sie eine böse Überraschung. Die Vorhänge waren heruntergerissen, der Schreibtisch war verwüstet, und sowohl das Kissen als auch die Bettdecke lagen vor dem offen stehenden Schrank. Der einst so penibel eingerichtete Raum erinnerte an ein Schlachtfeld. Ihr Vater würde einen Wutanfall bekommen, wenn er dieses Chaos erblickte.
»Julien, was hast du nur angestellt?«, rief sie und schaute unter das Bett, wo sich der Wilde verkrochen hatte und sie mit Unschuldsmiene anblickte, als könne er kein Wässerchen trüben.
»Komm bitte hervor, damit ich dich wenigstens verarzten kann.«
Aber Julien dachte überhaupt nicht daran, ihrer Bitte Folge zu leisten.
Seufzend bückte sie sich und hielt ihm die Schale mit der Wundsalbe hin. Seine Nasenflügel blähten sich, doch der Geruch der Salbe war beißend, sodass er angewidert das Gesicht abwendete.
»Habe keine Angst. Ich will dir nur helfen.«
Sie rutschte auf den Knien nach vorn und tunkte ihren Finger in die Creme, um anschließend die Hand unter das Bett zu schieben und vorsichtig die wunden Stellen einzureiben. Julien zischte, als die kühle, zähe Flüssigkeit die brennende Haut berührte. Hastig leckte er die Creme ab.
»Nein! Hör auf damit. Die Salbe ist nicht zum Essen gedacht«, stöhnte sie.
Da vernahm sie schwere Schritte hinter sich. Jemand stieg die Treppe nach oben. Im nächsten Moment stand Beaumont in der Tür.
»Großer Gott, was ist denn hier geschehen!« Stocksteif stand er da, mit aufgerissenen Augen und einem Gesichtsausdruck, der pure Fassungslosigkeit offenbarte.
»Oh Papa, es tut mir so leid. Es ist alles meine Schuld.«
Er betrat den Raum und bückte sich nach den Scherben einer Vase, die zu seinen Füßen lagen.
»Nein ... nicht Mutters Geschenk«, brachte er heiser hervor.
»Was ist geschehen?« Seine Stimme klang bitter.
»Juliens Armgelenke bluteten, daher löste ich seine Stricke. Ich wollte seine Wunden versorgen, aber es war keine Salbe im Haus. Also bin ich zur Apotheke gerannt und ...«
»Du hast ihn befreit und auch noch unbeaufsichtigt gelassen?« Enttäuschung spiegelte sich in seinem Blick.
Sie nickte zögerlich. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so wüten würde.«
»Was hast du denn anderes erwartet? Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut, Lorraine. Wie konntest du nur so verantwortungslos sein? Warum habe ich nicht auf Giffard gehört? Er hatte recht! Julien ist ein wildes Tier. Ich mache mir nur etwas vor.«
»Aber Papa!«
Beaumont ließ die Scherben fallen und wankte er aus dem Zimmer.
»So warte!« Lorraine hob die Scherben, verschloss das Zimmer und folgte ihm in die Küche.
Beaumont saß schweigend am Tisch. Sie setzte sich zu ihm. Bereute er wirklich, Julien ins Haus geholt zu haben? Gestern war er doch so voller Begeisterung für sein Projekt gewesen.
»Ach, Papa«, flüsterte sie, legte die Scherben auf ihren Schoß und drückte seine Hand. »Ich wünschte, ich könnte rückgängig machen, was geschehen ist. Verzeih mir.«
Er sah sie ernst an. »Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich hätte die kostbare Vase nicht im Gästezimmer stehen lassen dürfen. Es war abzusehen, dass so etwas früher oder später passieren würde. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich Julien bei uns aufnahm. Es wäre naiv zu glauben, dass er sich von einem Tag auf den nächsten menschliche Sitten aneignet.«
»Dann wirst du ihn nicht fortschicken?« Lorraine war überrascht von ihren eigenen Worten. Nach ihrer ersten Begegnung hätte sie Julien am liebsten vor die Tür gesetzt, nun sorgte sie sich um ihn.
»Ich halte an meinem Vorhaben fest. Wie stünde ich da, wenn ich nach den ersten Tagen aufgebe? Ich würde mich zum Gespött machen.«
»Es freut mich, dass deine Zuversicht zurückgekehrt ist.«
»Dennoch hätte ich nicht die Selbstbeherrschung verlieren dürfen.«
»Julien macht es dir nicht gerade leicht. Wir müssen eine Lösung für ihn finden. Wenn wir ihn erneut an das Bett fesseln, werden die Wunden nicht heilen.«
»Außerdem soll er nicht das Gefühl bekommen, er wäre ein Gefangener. Aber frei herumlaufen
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