Die Winterchroniken von Heratia 1 - Der Verfluchte (German Edition)
wütenden Aufschrei schlug Nedrin ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Kerib schloss die Augen und ließ es geschehen. Er spürte Blut aus seiner Nase schießen und seine Lippen benetzen.
»Ich bin der von den Göttern ernannte Hohepriester und ich gebe die Befehle, nicht du! Glaube nicht, du wärst nicht zu ersetzen«, fauchte Nedrin ihn an.
»Stimmt, Ihr seid mein Hohepriester und ich habe Euch zu gehorchen. Allerdings geht es hier darum, den Fünften Gott zu töten, und ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, um ebendieses Ziel zu erreichen. Es ist mir egal, wie viele Leben es kostet, selbst wenn das meine darunter ist, denn er hat unzählige mehr auf dem Gewissen und wird noch viele mehr umbringen, wenn wir ihn nicht stoppen.« Kerib schüttelte den Kopf und lächelte. »Lasst mich ruhig dafür hinrichten, dass ich Rinartins Tod in Kauf genommen habe – ich habe mein Ziel erreicht. Morgen findet der Richterspruch gegen Carath statt und die Welt wird Rinartins wahren Mörder sehen. Oder zumindest den, den sie dafür hält.«
Alles Blut wich aus Nedrins Gesicht. »Ich bin kurz davor, ebendies zu tun! Niemals … Niemals hätte es soweit kommen dürfen! Er war … mein Freund.« Der Hohepriester wandte sich um und stützte sich kraftlos auf seinen Altar. »Zwei unschuldige Opfer hat er bereits gekostet, unser wahnwitzige Plan … Zwei wundervolle Leben, die nicht hätten vergehen sollen. Das kann nicht im Sinne der Vier Großen Götter sein! Mit dieser Tat haben wir uns auf dieselbe Stufe gestellt, wie der Verfluchte Gott.« Kerib sah, wie sich die Hände des alten Mannes in das Tischtuch krallten, das den Altar bedeckte. Er zog die Augenbrauen zusammen. Der alte Narr würde doch jetzt, so kurz vor ihrem Ziel, nicht schwächeln?
»Nein. Ich kann das nicht. Ich werde ihnen beim nächsten Richterspruch mitteilen, dass ich hinter alledem stecke, und Carath seinen Wolf wiedergeben. Ich werde allen erklären, wer der Verfluchte Fünfte Gott in Wahrheit ist, aber ich werde nicht zulassen, dass dieses Wesen aus Hass und Chaos weiter mein Herz vergiftet, indem ich krampfhaft versuche, es zu vernichten!«
Kerib stieß wütend die Luft zwischen zusammengepressten Zähnen aus. »Seid Ihr des Wahnsinns? Niemand wird Euch glauben! All die Opfer, der Winterelf und Rinartin, beide werden umsonst gestorben sein! Wollt Ihr das? Wollt Ihr, dass ihr Opfer vergebens …«
Nedrin fuhr herum und riss dabei die Tischdecke mit sich. Laut scheppernd fielen mehrere goldene Kerzenständer und Gabenschalen zu Boden. Viele zerschellten auf dem harten Stein, doch der Hohepriester ignorierte es. »Hörst du eigentlich, wie du sprichst?«, stieß er tonlos hervor. »Wie tief sich der Abscheu und die Rachegelüste in dein Herz gegraben haben? Das ist der Verfluchte Gott! Er lebt in jedem Menschen, die von derart abgrundtief bösen Gedanken befallen sind, wie du! Solange es Personen wie dich gibt, wird der Fünfte Gott nie aus der Welt verschwinden, niemals!«
Das war zuviel. Kerib spürte, wie sein Körper bebte. Er war kurz davor, dem Alten an die faltige Kehle zu gehen. Ein Bild flackerte in ihm auf, das Bild, das er so lange tief in seinem Inneren bewahrt hatte. Das Bild einer Kreatur aus reinem Licht, aus purer Energie, die so sanft und unschuldig über den reglosen Körpern unter ihr schwebte.
‚Mach dir keine Sorgen. Ihre Lebensenergie wird mir von großem Nutzen sein. Dein Leben will ich jedoch verschonen, auf dass du dich vor Hass und Rachsucht verzehren mögest und die Welt mit deinen niederträchtigen Gefühlen beglückst.’
Noch heute hörte er die Stimme in seinem Kopf, wie sie diese Worte formten. Kerib ballte die Hände zu Fäusten. Er war nicht wie dieses Wesen, das alles ausgelöscht hatte, was ihm wichtig gewesen war. Er tötete nicht grundlos. Er tötete nicht aus purem Spaß. Aber er würde diesen Verfluchten Gott dafür vernichten, was er ihm, seiner Familie und abertausend weiteren Menschen angetan hatte.
Ohne ein weiteres Wort wirbelte Kerib herum und stürzte aus dem Altarraum. Das Gemisch aus penetrantem Weihrauchgestank und Hass drohte ihm die Sinne zu rauben. Was waren zwei Leben gegen die vieler tausend weiterer Leben? Aber was erwartete er von einem alten Hohepriester, der das Leben nur aus staubigen Büchern kannte?
Kerib lehnte sich schwer atmend an die Wand und schloss die Augen. Nedrin hatte sein Schicksal selbst gewählt. Dann würde die Hinrichtung des Verfluchen Gottes eben drei Opfer
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