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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ersten Mal in dieser Nacht wurde mir bewusst, wie hoch die Schneedecke lag, selbst unter den Bäumen. Mit jedem Schritt schienen meine Füße tiefer einzusinken. Einmal schaute ich mich um und sah, dass die Priester mit denselben Schwierigkeiten kämpften. Mir war, als sei sogar die Zeit gefroren. Unendlich träge kämpften wir uns vorwärts. Kaum weniger stockend folgten die Priester. Doch bald schon zeichnete sich ab, dass sie aufholten.
    Plötzlich hatten die Bäume ein Ende. Jakob und ich stolperten auf eine Lichtung hinaus. Da begriff ich, dass wir zwar den Berg hinaufgelaufen waren, dabei aber in unserer Verwirrung einen anderen Weg eingeschlagen hatten als den, den wir gekommen waren. Der Umweg hatte unseren Verfolgern Gelegenheit gegeben, noch weiter aufzuholen, und als Jakob und ich uns daranmachten, die Lichtung zu überqueren, da waren sie nur noch wenige Schritte hinter uns.
    Das Gelände wurde immer steiler. Meine Beine schmerzten vor Anstrengung. Da blieb Jakob stehen. »Es hat keinen Sinn!«
    Und im selben Moment gab er mir einen Stoß, der mich zur Seite und dann nach hinten taumeln ließ. Ich schrie, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Mein Gesicht prallte in den Schnee, ich überschlug mich und kam ins Rollen, erst langsam, dann immer schneller. Schreiend und strampelnd sauste ich den Hang hinunter, an den überraschten Priestern vorbei und wie eine Lawine zwischen die Bäume. Erst zehn Schritte tief im Wald verhakte sich mein Arm an einem Stamm. Benommen blieb ich liegen. Krachend landete Jakob neben mir, sprang sogleich auf die Beine und zog mich hoch.
    »Reiß dich zusammen!«, brüllte er und stieß mich weiter den Hang hinunter. Nadelzweige schlugen mir gegen Leib und Gesicht. Ich verstand nicht, was er bezweckte. Waren wir nicht gerade erst diesen Weg hinauf geflohen? Warum jetzt wieder hinunter?
    Vor uns, zwischen den Stämmen, glühte das Lagerfeuer der Priester in der Dunkelheit. Atemlos sah ich mich um. Ja, da kamen sie, aber nun war unser Vorsprung deutlich größer als während unserer Flucht bergauf.
    »Wir entfernen uns immer weiter von Dalberg und den anderen«, keuchte ich, in der Hoffnung, Jakob zur Vernunft zu bringen. Er aber gab keine Antwort, zog mich nur weiter auf das Feuer zu. Sein seltsames Manöver hatte immerhin bewirkt, dass wir unsere Verfolger übertölpelt hatten. Wären wir weiter nach oben gelaufen, hätten sie uns innerhalb der nächsten Minute eingeholt. So waren wir ihnen noch einmal entkommen, und doch war das Unvermeidliche nur aufgeschoben.
    »Die Pferde!«, rief Jakob mir zu, als wir durch die Büsche auf den Lagerplatz sprangen.
    Natürlich! Die Pferde der Priester standen irgendwo jenseits der nächsten Bäume. Sie waren die einzige Möglichkeit, schnell genug von hier fortzukommen.
    Im Vorbeilaufen blickte ich ins Feuer – und bemerkte, dass sich die Flammen verfärbt hatten. Sie waren nicht mehr gelb oder rot, sondern glühten nun in strahlendem Himmelblau. Auch knisterten sie lauter und hektischer, ganz anders als noch vor wenigen Minuten. Und ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Er kam mir bekannt vor. Sehr bekannt.
    Etwas rammte mir von hinten ins Kreuz, ich wurde vorwärts gestoßen und landete mit dem Bauch im Schnee. Etwas, jemand fiel über mich her und drehte mir beide Arme auf den Rücken. Als ich das Gesicht zur Seite wandte und durch Schleier von Schmerz zu Jakob blickte, sah ich, dass auch auf ihm einer der Priester hockte.
    Ein Faustschlag traf meinen Kopf und verfehlte nur knapp meine Schläfe. Ich schrie gellend auf, und mein Gesicht wurde gewaltsam in den Schnee gepresst. Mein Schrei brach ab, ich strampelte, versuchte mich zu drehen, umsonst. Eine Hand riss mich an den Haaren zurück, ich schnappte verzweifelt nach Luft – und roch es erneut. Dieser Geruch!
    Etwas schwebte vor mir aus der Dunkelheit zu Boden. Ich glaubte erst, es sei eine Schneeflocke. Doch dafür war es zu groß. Vielleicht ein Eissplitter von einem der Bäume.
    Der süßliche Duft wurde stärker. Die Schwaden bereiteten mir Übelkeit, mehr noch als das drohende Gewicht in meinem Rücken, mehr noch als meine Angst vor dem Tod. Ich spürte, dass ich mich gleich übergeben würde. Ich würde am eigenen Erbrochenen ersticken.
    Wieder segelte etwas vor mir in den Schnee. Ich erkannte jetzt, dass es ein kleines Stück Papier war, unregelmäßig aus einem größeren Blatt herausgerissen. Irgendwelche Zeichen standen darauf. Schrift, aber keine lateinische.
    Ich

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