Die Winterprinzessin
während einer nächtlichen Rast am Lagerfeuer sagte er zu mir: »Ich mache mir Sorgen um Sie, Herr Grimm. Sie sehen schlecht aus.«
»Ich bin solche Jagden nicht gewohnt«, entgegnete ich ausweichend und war froh, als er es damit bewenden ließ.
Der wahre Grund meiner Trübsal war freilich ein anderer. Seit jener Nacht in der Herberge hatte ich kein Zeichen mehr von Jade entdeckt. Ich wagte nicht, mit Jakob darüber zu sprechen, aus Furcht, jemand könne uns belauschen. Dabei war mir doch klar, dass ihn die gleichen Bedenken martern mussten.
Am fünften Abend lagerten wir auf einem Hügel an der Grenze zum Thüringischen. Seine Kuppe gewährte eine gute Sicht auf das vor uns liegende Land. Berghang um Berghang wellte sich empor, und dort, wo keine Felsen aus der Erde stachen, wucherten dichte Nadelwälder, durchmischt mit kahlen Laubbeständen. Über allem lag eine glitzernde Schneedecke, und in manchen Stunden, wenn die Sonne durch graue Winterwolken gleißte, funkelte die Landschaft, als hätte jemand einen riesigen Spiegel zerbrochen und die Splitter über die Berge verstreut.
Die Soldaten hatten auf einer Fläche von zehn mal zehn Schritten den Schnee so gut es nur ging beiseite geschabt und rundum zu hüfthohen Wällen aufgeworfen. Wenig später brannten vier Lagerfeuer und spendeten wohlige Wärme. Die Wälle verhinderten, dass der Wind das Feuer löschte und uns Eiszapfen an die Nasen trieb. Stiller hatte angeordnet, dass sich alle gleich zum Schlafen legen sollten, denn schon in wenigen Stunden, noch vor der Morgendämmerung, sollte es weitergehen.
Der Lord und seine kleine Geisel hatten die vergangene Nacht in einem Gasthof bei Coburg zugebracht. Dem Wirt, fast taub und blind auf einem Auge, hatte er erklärt, es ziehe ihn nach Westen, doch gewiss war dies nur ein Versuch, uns auf die falsche Fährte zu locken.
Jakob, Dalberg und ich lagen um eines der Feuer, die Decken bis zum Kinn hochgezogen, und horchten, wie der Wind durch die Wälder schnaufte. Stiller hatte sich an einer der anderen Feuerstellen unter seine Soldaten gemischt.
»Was glauben Sie, wo Stanhope hin will?«, fragte ich leise in die Richtung des Ministers.
Dalbergs Decke raschelte, als er sich zu mir umdrehte. Rot-gelber Feuerschein geisterte über sein Gesicht. »Ans Meer, vielleicht. Hamburg, Lübeck, in eine der großen Hafenstädte. Oder eine der kleineren, nach Wismar möglicherweise.«
»Über die Ostsee? Aber England liegt auf der anderen Seite.«
Dalberg gab keine Antwort und blickte schweigend in die knisternden Flammen. Die Schatten unter seinen Augen wirkten einen Moment lang dunkler, noch sorgenvoller.
Auch Jakob regte sich. »Ich glaube nicht, dass England sein Ziel ist. Was soll er dort mit dem Kind? Ich nahm an, wir seien uns einig, dass er nicht mehr im Dienste der englischen Krone steht.«
»Wie können wir uns festlegen, wo wir doch nichts über ihn wissen?«, meinte Dalberg verdrießlich.
Er war Ihr bester Freund, lag mir auf der Zunge, aber ich verschluckte die Bemerkung. Noch etwas beschäftigte mich, seit wir den Steinbruch vor zwei Tagen hinter uns gelassen hatten. »Weshalb schlägt er sich nicht einfach in die Wälder und taucht unter?«
»Er darf die Gesundheit des Prinzen nicht aufs Spiel setzen«, entgegnete Jakob. »Wahrscheinlich gehört das zur Abmachung mit seinen Auftraggebern.«
»Er könnte sich in irgendeinem Bauernhaus verstecken«, widersprach ich. »Dort hätte das Kind es warm, und wir könnten Monate durchs Land irren, ohne ihn zu finden.«
Dalberg spuckte ins Feuer. »Die Zeit läuft ihm davon, weiß der Teufel, warum. Zudem kann er nicht ahnen, wie nahe wir ihm bereits sind.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Sie unterschätzt«, gab Jakob zu bedenken.
»Nein«, stimmte der Minister zu. »Aber er weiß nicht, dass wir im Steinbruch einen Tag eingespart haben. Vielleicht hofft er auf Schnee, der seine Spuren verwischt. Ich glaube, er hat diese Verfolgungsjagd einkalkuliert, weil er wusste, dass er den Leuten auffallen würde. Es war nicht zu vermeiden. Seine einzige Waffe ist sein Vorsprung, und der schmilzt mit jeder Stunde dahin.« Dalberg setzte sich auf und hielt die Hände näher ans Feuer. »Das war es auch, was mich darauf brachte, dass er zur Küste flieht. Wenn er vor uns einen Hafen erreicht, ist er so gut wie entkommen. Ein Schiff hinterlässt keine Spuren. Es kann Stanhope gleichgültig sein, ob er sich an der Ost- oder der Nordsee einschifft. Ist er erst einmal
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