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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wartete ergeben darauf, dass mein Peiniger mich erneut in den Schnee drücken würde, doch der Priester rührte sich nicht. Er hielt weiterhin mein Haar gepackt, kauerte mir im Kreuz, und doch war er wie erstarrt.
    Ein gellender Schrei. Der Priester sprang schlagartig auf. Das Gewicht aus meinem Rücken verschwand. Eingenebelt von dem süßlichen Duft, drehte ich mich herum, mühsam, sehr langsam.
    Unsere Verfolger wichen zurück. Die drei Männer taumelten rückwärts zum Waldrand, starrten Jakob und mich an, als sei ihnen der leibhaftige Satan erschienen. Ein Papierfetzen flatterte mir von oben ins Gesicht, weitere gingen rings um mich nieder. Ich ergriff einen, versuchte zu lesen, was darauf stand, konnte aber die seltsamen Zeichen nicht entziffern.
    »Sanskrit!«, flüsterte Jakob. »Es ist Sanskrit.« Auch er hatte zwei der Zettel in Händen und wusste nichts damit anzufangen.
    Die drei Priester kreischten auf, als ein Windstoß mehrere der Fetzen aufwirbelte und in ihre Richtung trieb. Die Männer wichen zurück, als wären es Spinnen und Skorpione.
    Mir kam ein Gedanke: Was, wenn gar nicht das Papier die Priester verängstigte, sondern etwas, das hinter uns war? Hinter uns im Wald?
    Mein Kopf wirbelte herum.
    Aber da war nichts. Nur dieser blaue Feuerschein, der über Schnee und Bäume flimmerte.
    »Wilhelm!«, rief Jakob aus.
    Ich sah zu ihm hinüber. Er hatte eine Hand ausgestreckt und deutete nach oben, in die Krone einer mächtigen Buche, deren äußere Äste sich über das Lager spannten.
    Darin saß Jade.
    Die Prinzessin hielt mehrere Papierstreifen in Händen, außerdem eine Feder oder ein Stück Kohle, mit dem sie die Zeichen auf die Fetzen schrieb. So angestrengt war sie dabei, das Papier zu beschriften und abzureißen, dass sie gar nicht bemerkte, dass Jakob und ich sie entdeckt hatten. Sie schrieb, riss das Stück ab und ließ es in die Tiefe trudeln, wieder und immer wieder. Mindestens zwanzig solcher Schnipsel lagen schon im Schnee, und immer neue kamen hinzu.
    Die Priester stolperten in heilloser Panik zurück. Der Weg zu den Pferden war ihnen abgeschnitten. So warfen sie sich jetzt herum und stürmten bergauf in die Dunkelheit. Einen Augenblick später waren sie in der Nacht verschwunden.
    Noch einmal blickte ich mich angstvoll um. Dann wurde ich mir wieder des Duftes bewusst. Es war derselbe Duft nach verbrannten Kräutern, wie ihn Jade mit ihrer Pfeife verbreitet hatte, nur unendlich stärker. Sie musste ihren gesamten Vorrat ins Feuer geworfen haben, um den Lagerplatz derart einzunebeln.
    Hatte der Geruch den Priestern solche Angst eingejagt? Auch ich fühlte mich durch die süßen Dämpfe berauscht, aber es war kein Gefühl, das mich in Panik versetzte. Auch konnten die Kräuter schwerlich so grauenvolle Visionen hervorgerufen haben, dass sie Spindels Brüder in die Flucht geschlagen hätten, denn weder Jakob noch ich sahen irgendwelche Trugbilder.
    Sobald die Priester im Dickicht verschwunden waren, hörte der Papierregen auf. Jade warf den Rest achtlos beiseite, dann kletterte sie schweigend durch die Äste zum Stamm und daran hinunter bis auf den Boden. Jakob und ich fielen ihr nacheinander um den Hals.
    »Wie haben Sie das gemacht?«
    Jades Gesicht drohte mir mehrmals vor den Augen zu verschwimmen, und ich taumelte leicht – Nachwirkungen der Kräuterdünste, die nur allmählich verflogen. Das Feuer hatte wieder seine normale gelbe Färbung angenommen, doch der schwere Duft hing noch immer in der Luft.
    Die Prinzessin lächelte, aber zugleich stand ein gehetzter Ausdruck in ihren Augen. »Eindrucksvoll, nicht wahr? Aber wir müssen erst fort von hier. Im Gegensatz zu Ihnen kann ich lesen, was auf den Zetteln steht.«
    Damit bedeutete sie uns, ihr zu folgen. Hinter den Bäumen standen die drei Schimmel der Priester Catays, gesattelt und bereit zum Aufbruch. Jakob erklomm das erstbeste Tier, ich zog mich auf ein anderes. Das dritte scheuchten wir davon, denn Jade hatte nur wenige Schritte entfernt ihr eigenes Pferd angebunden – ein prächtiger Hengst mit rot-braunem Fell, den sie aus den Stallungen des Schlosses gestohlen hatte.
    Weiter oben im Wald erklangen Stimmen, dann entluden sich mehrere Gewehre, gefolgt von wildem Säbelrasseln. Wahrscheinlich waren die Soldaten ausgeschwärmt, um nach Jakob und mir zu suchen. Dabei mussten ihnen die Priester auf ihrer heillosen Flucht direkt vor die Klingen gelaufen sein. Die Soldaten waren in der Überzahl, aber ich hatte erlebt, wie ein

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