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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Nacht keine Ruhe gegönnt. Nun trabten sie entlang einer steilen Felskante, hoch über den Wäldern. Ein Habicht kreiste über uns in den stahlblauen Weiten.
    »Sie sind uns noch eine Erklärung schuldig«, sagte Jakob. Er hatte seit Stunden kein Wort gesprochen.
    Jade kicherte, wieder ganz das kleine Mädchen. Im hellen Sonnenlicht bekam ihr schwarzes Haar einen Stich ins Blaue. »Und ich dachte schon, Sie fragen gar nicht mehr.«
    »Möchten Sie, dass ich ›bitte‹ sage?«
    Sie ging nicht darauf ein. »Beschreiben Sie mir, was Sie unter einem Rausch verstehen.«
    »Einem Rausch?«, fragte ich verwundert.
    Sie nickte. »Ja. Verschwommene Bilder, blasse Farben, seltsame Klänge und so weiter.«
    »Damit haben Sie sich selbst die Erklärung gegeben«, sagte Jakob.
    »Nein, nein, Sie verstehen nicht. Ich meine nicht die Wirkung, sondern den Rausch selbst.«
    »Das Gehirn wird vernebelt«, sagte ich. »Man sieht Trugbilder, vielleicht eine Art Wahnsinn im Kleinen, zeitlich begrenzt.«
     
    Jade schüttelte den Kopf. »Ganz falsch. Vernebelt würde bedeuten, die Wahrnehmung wäre beeinträchtigt, also Augen, Ohren und Nase. Aber das ist es nicht.«
    »Nun sagen Sie’s schon«, verlangte Jakob.
    »Nehmen Sie den Felsen dort vorne. Sehen Sie sich ihn genau an. Ihre Augen übermitteln jetzt eine Botschaft an Ihr Gehirn. Felsen, besagt sie, dazu ein paar Einzelheiten wie Farbe, Eigenheiten der Form, et cetera, et cetera. Meine Kräuter nehmen nun einige Änderungen in dieser Botschaft vor. Nicht an Ihrem Auge und nicht in Ihrem Gehirn; nur der Wortlaut ändert sich, die Botschaft wird kürzer, die Nachricht scheint verschleiert.« Jade beugte sich zur Seite und kramte in ihrer Satteltasche. Wenig später zog sie die Pfeife hervor, schenkte ihr einen bedauernden Blick und schleuderte sie über die Felskante hinab in die Tiefe. »Die brauche ich nicht mehr. Das, was ich heute Nacht den Priestern ins Feuer geworfen habe, war mein gesamter Vorrat. Eine solche Menge verändert die Botschaft ganz erheblich, sie entkleidet sie aller Details, bis nur ein einziges Wort übrig bleibt: Fels. Nichts sonst, keine Struktur, keine Umrisse, keine Farbe, gar nichts. Das Gehirn kann schließlich den Unterschied zwischen der Beschreibung eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst nicht mehr erkennen. Ein Zettel mit einem Wort darauf genügt, und man glaubt, das, was darauf geschrieben steht, befände sich tatsächlich vor einem.«
    Jakob starrte sie misstrauisch an. »Sie meinen, wenn Sie uns heute Nacht am Feuer einen Zettel mit dem Wort ›Fels‹ vor die Nase gehalten hätten, hätten wir angenommen, Sie würden einen Fels in Händen halten?«
    »Genau das ist die Wirkung.«
    »Und wenn auf dem Zettel ›Drache‹ steht? Oder ›Gott‹?«
    »Dann sehen Sie einen Drachen oder einen Gott.«
    »Was stand auf Ihren Zetteln?«
    Jade legte den Kopf in den Nacken und genoss für einen Moment die Sonne auf ihrem Gesicht. Die erste echte Wärme, die sie in diesem Land erlebte. »Asura«, sagte sie schließlich.
    »Was bedeutet das?«
    »Asura heißt so viel wie Nicht-Gott oder, wenn Sie so wollen, Dämon.«
    »Die Priester sind vor Dämonen geflohen?«
    »Vor dem, was sie für Dämonen hielten«, bestätigte sie. »Und es gehört sicher einiges dazu, einem Priester Catays Angst einzujagen. Ich habe nur das Wort aufgeschrieben, den Rest besorgte ihre Vorstellungskraft.«
    Jakob hob die Augenbrauen. Er verstand plötzlich. »Weil es Sanskrit war, hatte es auf uns keine Wirkung.«
    »Natürlich nicht. Was Sie nicht lesen können, können Sie nicht verstehen – und sich folglich auch nicht vorstellen. Für Sie waren es nur ein paar unleserliche Schriftzeichen. Ich selbst war erst in Gefahr, als ich vom Baum stieg und mich dem Rauch aussetzte. Wäre mein Blick zufällig auf einen der Zettel gefallen, hätte ich etwas Ähnliches gesehen wie die Priester, und ich hätte nichts dagegen tun können.«
    Eine Erinnerung wie ein Blitzschlag: die Nacht mit Jade im Wald. Der Rauch ihrer Pfeife. Ein Zettel im Schnee. Darauf fünf Buchstaben: Liebe.
    Und da begriff ich, was sie getan hatte.
    Doch welchen Sinn hätte es gehabt, danach zu fragen? Der Rauch war längst fort, auch der Zettel. Nur das Wort war geblieben.
    Und war das nicht alles, was zählte?
    Stanhopes Spur führte nun geradewegs nach Norden, was immerhin Dalbergs Theorie bestätigte, der Lord versuche, die Küste zu erreichen. Doch bis dahin waren es noch viele Tagesritte, und ebenso gut hätte

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