Die Winterprinzessin
korrekt.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie«, sagte er und legte den Brief beiseite. »Ich nenne die schlechte zuerst, nicht, weil es sich so gehört, sondern weil sie die gute bedingt.«
Jakob und ich wechselten einen verunsicherten Blick.
»Wie Sie wohl wissen, war es vorgesehen, dass Sie die gelehrte Erziehung eines Kindes übernehmen. Leider gab es einen tragischen Zwischenfall: Der Junge, um den es ging, ist tot, wenige Tage nach der Geburt verstorben.«
»Nach der … Geburt?«, fragte ich betroffen. »Ich sollte der Lehrer eines Neugeborenen sein?«
Dalbergs Lächeln wurde eine Spur breiter. »Wie man’s nimmt.«
In mir zerbrachen tausend Träume. »Dann bin ich umsonst gekommen?«
Der Minister verschränkte die Finger vorm Kinn. »Ich wiederhole: Wie man’s nimmt. Die gute Nachricht nämlich ist, dass Ihr Posten nach wie vor besetzt werden soll.«
Da er mit Goethe gut bekannt war, schien es mir ausgeschlossen, dass er sich über mich lustig machte. Und doch zweifelte ich an seiner Ernsthaftigkeit.
Jakob kam mir zuvor. »Bitte, erklären Sie das.«
Dalberg räusperte sich, stand auf und trat an eines der Fenster. Draußen begann es zu schneien, dichte graue Vorhänge, die jede Sicht auf die Gärten verwehrten.
»Mein Freund Goethe schreibt, ich könne mich auf Ihre völlige Diskretion verlassen«, sagte er und wandte uns dabei den Rücken zu. Es klang wie eine Feststellung, zweifellos, doch dahinter verbarg sich eine Warnung.
»Ohne jeden Vorbehalt.«
Mit einem Ruck drehte er sich um. Hinter ihm peitschten die Schneeflocken fast waagerecht gegen die Scheibe. Der Wind heulte in den Mauerfugen. Es sah aus, als stünde Dalberg in einem Tunnel, der rundherum vorüberraste.
»Das Kind gilt als tot – und ist es vielleicht doch nicht. Es gibt derzeit einige Unstimmigkeiten über das weitere Vorgehen in dieser Sache«, erklärte er. »Sie müssen wissen, es hängt sehr viel ab von diesem Jungen. Seine Zukunft ist von erheblicher Importanz. Nicht nur für mich und das Herzogtum Baden. Glauben Sie mir, es steckt so viel mehr dahinter.«
Wir schwiegen und hofften, dass er seine Ausführungen vertiefen würde. Mein Herz schlug schneller. Ich rief mir ins Gedächtnis, was ich aus Goethes Schreiben über Dalberg wusste: Während seines Studiums in Ingolstadt war er in Kontakt zu Weishaupt und den ersten Illuminaten getreten. Heute noch schlug sein Herz für die geheime Gesellschaft, woher auch seine persönliche Bekanntschaft mit dem Dichter rührte; Goethe war lange Zeit einer der führenden Köpfe des Ordens gewesen. Im Jahre 1803 war Dalberg in die Dienste Badens getreten, wurde ein Jahr später dessen Gesandter in Paris. 1809 berief ihn Bonaparte zum badischen Außenminister. Vor zweieinhalb Jahren erst, 1810, hatte er die französische Staatsbürgerschaft und die Herzogswürde erhalten, was ihm bei manch einem Deutschen den Ruf eines Überläufers eingebracht hatte.
Dieser Mann, der doch alle Macht in Händen hielt, stand nun vor uns und suchte nach den richtigen Worten.
»Sie müssen wissen, es ist ungemein wichtig, dass dieses Kind gleich in den ersten Jahren in bester und gelehrter Gesellschaft heranwächst. Sein Großvater wünscht es so.«
»Sein Großvater?«, meinte Jakob wissbegierig. Mir selbst schien die Frage verwegen.
»Ja«, entgegnete Dalberg. Noch einmal zögerte er, dann fuhr er endlich fort: »Ach, was soll’s, Sie werden es ohnehin bald erfahren. Die Eltern des Kindes sind der Großherzog Karl und seine Gattin Stephanie.«
Himmelherrgott, durchfuhr es mich, das bedeutete ja, dass …
»Sein Großvater ist Kaiser Napoleon, der große Bonaparte persönlich«, sagte Dalberg. »Ich muss Sie noch einmal an Ihr Stillschweigen erinnern. Nicht einmal der Großherzog selbst kennt jedes Detail. Es ist Ihre unbedingte Pflicht, kein Wort davon nach außen dringen zu lassen. Ich spreche so offen zu Ihnen, weil Goethe Sie mir ans Herz legte, doch Sie sind beide noch jung, und ich kenne die Jugend. Also, Diskretion über alles, meine Herren. Ich muss Ihnen diesen Schwur abnehmen.«
Wir nickten und fühlten uns geehrt. Freilich änderte dies nichts an meiner angstvollen Unruhe.
»Der Sohn des Großherzogs und seiner Gattin, der Adoptivtochter Bonapartes, wurde am 29. September geboren, vor rund drei Monaten also. Siebzehn Tage später verstarb er namenlos nach einer Nottaufe. Die Ärzte stellten am Leichnam Gicht und Schlagfluss fest. Das zumindest ist die
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