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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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offizielle Fassung der Geschehnisse. Alles, was ich Ihnen derzeit dazu sagen kann, ist, dass es noch eine zweite Version der Ereignisse gibt, und jene ist es, die Bedeutung für Sie haben soll.«
    »Dann lebt das Kind tatsächlich noch?«, fragte Jakob.
    Dalbergs angeborenes Lächeln wirkte nunmehr gequält. »Es haben sich in den vergangenen Tagen einige Dinge ergeben, die es mir unmöglich machen, darauf in diesem Augenblick eine Antwort zu geben. Haben Sie bitte Verständnis, wenn ich es vorerst bei meiner Andeutung belasse.«
    »Verzeihen Sie«, bat ich, »aber es gibt eine andere Frage, die ich Ihnen stellen muss. Ich bin Gelehrter, ich erkunde die Sprache und das geschriebene Wort. Was, glauben Sie, könnte ich einen Säugling lehren?«
    Dalberg trat wieder hinter sein Schreibpult. »Es ist ein wenig schwierig, das zu erklären, und ich würde es gerne dann erst versuchen, wenn ich Ihnen auch den Rest der Angelegenheit offenbaren darf.«
    »Wann soll das geschehen?«, fragte Jakob vorlaut.
    »Bald. Vielleicht schon morgen. Ich muss Sie bitten, bis dahin Geduld zu haben. Ihre Räumlichkeiten im Gästehaus stehen bereit, und es ist selbstverständlich, dass Ihre Entlohnung, Herr Grimm,« – dabei sah er mich an – »vom Tag Ihrer Abreise in Kassel an erfolgt. Sie werden also durch diese Verzögerung keinen Verlust erleiden müssen.«
    Ehe wir weitere Fragen stellen konnten, läutete Dalberg nach seinem Sekretär. Der Mann erschien im selben Atemzug, als hätte er vor der Tür bereitgestanden.
    »Bitte, Bernard, lassen Sie die Herren Grimm in ihr Gästequartier führen.« Und zu uns sagte der Minister: »Wir sehen uns morgen wieder. Seien Sie versichert, alles wird sich zu Ihrem Besten fügen.«
    Damit entließ er uns, und Bernard, der Sekretär, geleitete uns hinaus. Im Vorzimmer wartete ein Diener, der die Führung ins Gästehaus übernahm. Es lag im äußeren Flügel des Schlosses und schien völlig verlassen. Offenbar waren wir die Einzigen, die man hier unterbrachte – obgleich ich mir kaum vorstellen konnte, dass an einem deutschen Hof, noch dazu dem badischen, der durch seine Nähe zu Frankreich von erheblicher Bedeutung war, nicht das ganze Jahr über Besucher empfangen wurden. Doch die Gemächer, an denen wir vorübergingen, waren still und augenscheinlich unbewohnt. Der schweigsame Diener wies uns zwei Räume mit zur Stadt gelegenen Fenstern zu und erklärte, man würde uns die Mahlzeiten aufs Zimmer bringen. Wir traten in den vorderen der beiden Räume und verriegelten die Tür.
    »Er hat es wieder getan«, schimpfte Jakob und ging unruhig auf und ab.
    »Was meinst du?«, fragte ich und besah mir die Einrichtung. Sie war edel, aber ohne Pomp. Außer Seidenbett, Kommode und Schrank gab es mehrere Portraits, die stolz von den Wänden blickten. Ich erkannte kein einziges.
    »Was ich meine?«, fuhr Jakob zornig auf. »Goethe! Er ist es doch, dem wir diese Kalamität zu verdanken haben. Wieder einmal.«
    Obgleich ich seine Meinung in gewisser Hinsicht teilte, ergriff ich doch Partei für den Dichter, mochte der Himmel wissen, weshalb. »Bislang ist doch gar nichts geschehen. Außerdem: Ich bin es, der hierher bestellt wurde. Ich soll mich mit dem Kind herumschlagen, nicht du.«
    »Und das gefällt dir?«
    »Natürlich nicht. Aber welche Wahl bleibt mir denn? Willst du mich ewig durchfüttern?«
    Er tat meinen Einwand mit einer fahrigen Handbewegung ab. »Du weißt doch, wenn erst das Buch – «
    »Das Buch«, unterbrach ich ihn scharf, »wird uns kein Geld bringen, das weißt du so gut wie ich. Die beiden ersten haben es nicht getan, und dieses wird es ebenso wenig. Die paar hundert Exemplare werden sich verkaufen, gewiss – über die nächsten zehn Jahre hinweg. Dann werden sie in Regalen und Truhen verstauben, und ich werde immer noch an deinem Rockzipfel baumeln und dich um Geld bitten müssen.«
    »So ist es doch gar nicht«, widersprach er mürrisch, denn ihm war das Thema ebenso unlieb wie mir. Nicht, weil es ihm um seine Taler Leid tat, ganz im Gegenteil: Er hing nicht am Geld, und es kümmerte ihn nicht, dass die ganze Familie davon lebte. Er hasste es vielmehr, überhaupt davon zu sprechen. Unter seiner spröden Schale schlug ein goldenes Herz.
    Ich aber blieb beharrlich. »So geht es nicht weiter, glaub mir. Jeder deiner Taler, den ich ausgebe, frisst mir ein Loch ins Gewissen, jeder Kreuzer brennt mir auf der Seele. Mir ist es gleich, was von mir verlangt wird, ich werde es tun. Und bedenke

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