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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unter den vorspringenden Walmdächern waren wie die Falten im Gesicht eines Greises, sie sprachen von Vergangenem und der Vielfalt des Lebens. Nur hier konnte die Märchenfrau, die wir suchten, zu Hause sein.
    »He, du!«, rief Jakob einen ärmlichen Jungen an, der munter im Schnee spielte. »Kennst du eine alte Frau, die Märchen erzählt? Ihr Name ist – «
    »Die alte Runhild«, rief der Kleine. Sogleich sprang er auf und führte uns geschwind um eine Ecke, eine schmale Gasse entlang und zwischen windschiefen Fachwerkwänden in einen engen Hof. Dort stand ein schmales Häuschen, kaum vier Schritte breit, zwei Stockwerke hoch, gekrönt von einem spitzen Giebel. Aus dem Kamin stieg Rauch, und es roch nach heißem Wachs. Neben der Tür hing eine Öllampe, die munter flackerte, als solle sie selbst am Tage die Leute an diese Schwelle führen.
    Der Junge deutete auf das Haus, und Jakob drückte ihm eine Münze in die Hand. Ohne ein Wort fuhr der Kleine herum und rannte davon.
    Wir traten an den niedrigen Eingang und pochten. Niemand antwortete, doch die Tür war nur angelehnt. Beim zweiten Klopfen schwang sie von selbst nach innen.
    »Frau Runhild!«, rief ich in die dunkle Stube, denn so hatte auch Brentano sie genannt. »Frau Runhild, sind Sie daheim?«
    Hinter uns, draußen auf dem Hof, knirschte ein Scharnier. Ich schaute mich um und entdeckte das Gesicht eines alten Mannes, der aus dem Fenster eines Nachbarhauses zu uns herabstarrte. Sein Blick war düster und sorgenvoll. Als er bemerkte, dass ich ihn entdeckt hatte, warf er geschwind das Fenster zu.
    Jakob trat ins Haus. »Frau Runhild?«
    Das untere Geschoss des Hauses bestand aus nur einem Raum und wurde von einem mächtigen Spinnrad beherrscht. Links und rechts an den Wänden standen Schränke und Regale mit allerlei Töpfen und Tiegeln. Auch hier hing der Geruch von Wachs in der Luft. Das einzige Fenster war mit faserigem Stoff verhängt. Eine einsame Kerze warf fahles Halblicht in das enge Zimmer. Im hinteren Teil der Stube führte eine schmale Holztreppe nach oben.
    Wir blickten uns unschlüssig an, dann drangen wir tiefer ins Heim der Alten vor.
    »Sie ist nicht zu Hause«, raunte ich Jakob ins Ohr.
    »Warum flüsterst du dann?«
    »Lass uns umkehren.«
    Seine Stirn legte sich in Falten. »Glaubst du, ich habe den Weg nach Karlsruhe für nichts gemacht?«
    »Wir können später zurückkommen. Vielleicht ist sie beim Bauern oder beim Fleischer oder weiß der Teufel wo.«
    Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Egal, was geschieht, ich muss morgen nach Hause fahren. Heute ist die einzige Möglichkeit, sie zu treffen. Abgesehen davon glaube ich, dass sie sehr wohl daheim ist. Hör doch!«
    Aus der Luke zum ersten Stock war ein leises Knarren erklungen. Jetzt noch einmal! Es wiederholte sich im Rhythmus mehrerer Herzschläge.
    »Frau Runhild, dürfen wir eintreten?«, rief ich.
    Keine Antwort.
    Wir durchquerten den schmalen Raum, umrundeten das Spinnrad und blickten die Treppe hinauf. Oben war es düster. So stiegen wir gemeinsam – ich zögernd, Jakob voller Neugier – die leise ächzenden Stufen empor. Jakob ging voran. Auf halber Höhe blieb er stehen und wandte sich zu mir um.
    »Das Ganze wirkt recht verheißungsvoll, oder?«, sagte er schmunzelnd.
    »Ich weiß nicht. Wir sollten – Jakob!« Mein Schrei ließ ihn herumwirbeln. Alarmiert blickte er hinauf ins Dunkel der Luke – und sah ebenso wie ich, wie etwas auf seinen Kopf zuschoss, direkt aus der Dunkelheit. Zwei Augen blitzten auf. Dann zuckte es zurück. Wieder das knarrende Geräusch.
    Ich war bereits herumgetaumelt und wollte die Stufen hinabspringen, doch Jakob hielt mich lachend zurück. »Bleib hier, du Hasenfuß. Was glaubst du, was das war? Ein Drache? Wilhelm, Wilhelm …«
    Verwundert sah ich erst ihn, dann die schwarze Öffnung an. Da war es erneut, und es war zweifellos ein Schädel, der aus den Schatten ins Licht drängte. Der Schädel eines Schaukelpferdes. Er zuckte vor und zurück, immer wieder.
    Beschämt zwang ich mich zu einem Lächeln.
    Eine brüchige Stimme sagte: »Ich hoffe, ich habe euch erschreckt, meine Kinder, denn eben das war meine Absicht.« Dem folgte ein krähenhaftes Kichern. »Hat eure Mutter euch nicht gelehrt, dass man nicht so einfach in fremder Leute Häuser eindringt?«
    Ich entsann mich der Moral eines unserer Märchen, in dem sich zwei Geschwister zu nahe ans Haus einer Hexe wagten. Die Alte hatte Recht. Gerade wir hätten es wissen müssen.
    Wir stiegen die

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