Die Winterprinzessin
den Turm der Jakobskirche.
Goethes Haus am Frauenplan befand sich im Süden, auf unserer Seite der Stadt. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartete, ich kann mich nur erinnern, dass ich mir kaum Gedanken darüber machte. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander aus Erinnerungen, die mir beim Anblick Weimars kamen, aus Hoffnungen, alles möge sich als Irrtum erweisen. Ich zog die schneidend kalte Luft tief in meine Lungen, in der Hoffnung, dadurch neue Klarheit in mein Denken zu bringen.
Wären mir in diesem Augenblick hundert Reiter mit gezogenen Säbeln entgegengesprengt, meine Furcht wäre verständlich gewesen. Doch die scheinbare Ruhe dieser Stadt, die leeren, dick verschneiten Straßen und die warmen Lichter hinter den Fenstern schienen mir grässlicher als jede Mörderbande. Es zeigte sich keine greifbare Gefahr, und doch lag in der Luft eine Unruhe, die nur ich und vielleicht noch die beiden anderen spüren konnten.
Sorgenvoll blickte ich in alle Richtungen und entdeckte doch nur die wohl bekannten Dinge. Weiße, mondbeschienene Dächer; finstere Hinterhöfe und enge Gassen; kleine blaue Flammen in den Glaskästen der wenigen Straßenlaternen; Turmuhren und scharfe Giebel; geschwungene Ornamente an Häuserwänden, seltsam gepaart mit reizloser Schlichtheit. Leblose alte Bekannte mit Steingesichtern und Schieferhaar.
Warum sprach keiner der anderen? Warum stellten sie keine Vermutungen an?
»Warum« ist die älteste der Großen Fragen, hatte die Märchenfrau gesagt.
Hadrians gehetzte Züge tauchten aus der Vergangenheit. Der Quinternio versteht sich als Verkörperung der fundamentalen Fragen.
Ein Geist, der durch die Höfe Europas weht, das waren Dalbergs Worte gewesen.
Eine Gewalt mit eigener Exekutive.
Jeder kann ihr Diener sein.
Die fünf Spitzen des großen Pentagramms.
»Wilhelm!«
Jakobs Stimme riss mich aus dem Scherbenhaufen meiner Erinnerungen. Für einen Augenblick schwankte ich benommen im Sattel, dann klärte sich die Umgebung. Jakob und Jade starrten mich an, Besorgnis in den Gesichtern.
»Du hast ausgesehen, als ob du jeden Moment vom Pferd fällst.« Jakob kniff die Augen zusammen, als wolle er in meinen Zügen lesen.
»Es geht schon wieder«, stammelte ich. Es musste der Schock sein, ein furchtbares Begreifen, das allmählich in meine Gedanken sickerte. Keine echte Überraschung, eher deren Nachwirkung.
»Sind Sie sicher?«, fragte Jade zweifelnd.
»Ja, ja, natürlich.«
Wir hatten die Stadtgrenze passiert und näherten uns dem Frauenplan. Goethes Haus lag in einer Kurve, ein großer, dreigeschossiger Bau mit Toreinfahrt und ein paar breiten Stufen, die hinauf zur Haustür führten. Die Fassade war in zartem Gelb gehalten, die Fenster braun umrahmt. Düster blickten sie auf einen weiträumigen Platz, ein unregelmäßiges Dreieck, in das mehrere Gassen mündeten. Der Mond beschien den aufgewühlten Schnee, zerfurcht von Kufen, Stiefeln, Pferdehufen.
Eine einsame Gestalt in weitem schwarzen Mantel, dick vermummt mit Schal und Schlapphut, kam uns entgegen. Langsam humpelte sie über den Platz, einen langen Stab in der Hand.
Der Schnee ringsum verschluckte jeden Laut. Allein mein Herzschlag musste bis hinauf in die Hügel zu hören sein.
Dann erkannte ich den Mann. Kein maskierter Finsterling, kein Schurke in dunklen Gewändern, nur ein Nachtwächter auf seinem abendlichen Rundgang durch die Straßen. Er grüßte mürrisch, als wir ihn passierten. Wenig später sah ich mich nach ihm um und bemerkte, dass er stehen geblieben war und uns nachschaute. Kontrollierte er nur die Laternen?
Vor dem Haus zugehen wir die Pferde und stiegen ab. Jade zögerte noch. Jakob hatte sich bemüht, ihr einige Zusammenhänge begreiflich zu machen, aber noch immer schien sie sich zu fragen, ob sie wirklich hier sein sollte, ob dieses Haus in dieser Nacht tatsächlich der Ort war, der sie auf ihrer Suche weiterbrachte.
Jakob stieg die wenigen Stufen hinauf und pochte an der braunen Doppeltür. Es dauerte eine Weile, dann ging sie mit einem sanften Knarren auf. Durch den Spalt beäugte uns eine kleine Frau in mittleren Jahren.
»Dorothea!«, rief ich erfreut. Die Magd war also immer noch im Haus des Dichters beschäftigt. Seltsam, dass Beständigkeit in uns Menschen immer auch Hoffnung weckt, als sei allein das Zugeständnis des Unveränderlichen etwa Gutes, Erstrebenswertes.
»Die Herren Grimm?«, fragte sie zweifelnd. Dann noch einmal, ehrlich beglückt: »Die Herren Grimm, tatsächlich!
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