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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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blieben in Gedanken versunken zurück. Schließlich gingen wir außen ums Haus zur Vorderseite. Ich dachte im Stillen, dass Jakobs missmutige Miene jetzt das Letzte war, was einer von uns gebrauchen konnte.
    Zu meinem Erstaunen empfing er uns mit seinem strahlendsten Lächeln.
    Ich warnte ihn: »Warte ab, bis du hörst, was wir erfahren haben, dann vergeht dir das Grinsen.«
    Er schüttelte eilig den Kopf. »Wohl kaum.«
    »Was ist geschehen?«, fragte Jade verdutzt.
    Jetzt erst bemerkte ich, dass Jakob eine zusammengerollte Karte in der Hand hielt. Er hob sie hoch und fuchtelte damit vor unseren Nasen herum. »Die habe ich einem Kutscher abgekauft.«
    »Und?«
    »Und, und!«, machte er. »Ich weiß es!«
    Jade sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Sie wissen was?«
    Jakob holte tief Luft, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er zu einer weitschweifigen Erklärung ausholte. Umso verblüffter war ich, als seine Antwort sich auf zwei kurze Sätze beschränkte: »Ich weiß jetzt, wohin Stanhope will! Und es ist nicht einmal weit von hier!«
     

3
    V aters Taschenuhr war stehen geblieben. Ich hatte in all der Aufregung vergessen, sie aufzuziehen. Als Jakob sie mir am Morgen zurückgab, hatte sie noch getickt. Jetzt aber war ihr metallischer Herzschlag verstummt, die Zeiger rührten sich nicht mehr.
    Die Natur wies mit ihren Wetterfingern in eine ganz bestimmte Richtung: Der Eiswind wehte uns in den Rücken, trieb uns schneller, immer schneller vorwärts. Der Abendhimmel hatte sich zugezogen bis auf einen schmalen Riss, durch den eine Säule von Mondschein zur Erde herabfiel. Häuser und Dächer der Stadt wirkten darin gleichermaßen grau.
    Die Stadt. Natürlich.
    Nicht einen Augenblick hatte ich an Jakobs Entdeckung gezweifelt. Es mochte alles Zufall sein, ein Scherz des Schicksals. Dann aber war es an der Zeit, die Pointe zu erfahren.
    Jade konnte unsere plötzliche Gewissheit nicht nachvollziehen. Trotzdem stellte sie keine Fragen, sie verließ sich auf Jakobs Instinkt.
    Es gab keine klugen Ausführungen und Folgerungen, nicht einen Hauch von Logik – nur ein brennendes Gefühl, das Richtige zu tun. Jakob war der Erste, der es gespürt hatte; nun aber loderte es auch in mir. Ich wusste, dies war der richtige Weg. Das Ziel lag direkt vor unseren Augen.
    Den Kreuzweg und das Gasthaus am Straßenrand hatten wir vor einigen Stunden hinter uns gelassen. Noch war es früh am Abend, doch der Winter hatte das Land schon in Finsternis getaucht. Die verschneiten Hügel lagen in tiefem Schatten. Allein die Stadt schwamm in einer Insel aus Mondlicht, wie ein heller Kieselstein, der aus einer schwarzen Pfütze ragte.
    »Weimar«, sagte Jakob und blickte den Hang hinab über die Giebel und Türme. Es war eine schlichte Feststellung, und es lag kein Triumph darin, aber auch keine Scheu. Einzig Erleichterung.
    Ein Blick auf die Karte hatte genügt. Das Gasthaus, vor dem die Kutsche auf Stanhope gewartet hatte, war darauf nur die Länge eines Fingergliedes von Goethes Heimatstadt entfernt. Zufall? Wohl kaum. Vorher hatten wir nicht gewusst, wo genau wir uns befanden, denn weder Jakob noch ich hatten die Lage aller Flüsse und Städte im Kopf. Unser Erstaunen, als wir auf die Karte blickten, hätte nicht größer sein können. Es war, als wären wir während der vergangenen Wochen im Kreis gelaufen: Goethes Brief aus Weimar; unsere Reise; die Prinzessin; das Schloss; der Prinz; noch eine Reise, diesmal auf Stanhopes Spur – und wieder Weimar. Es war unausweichlich. Wir hätten es von Anfang an wissen müssen.
    Jetzt, wo wir am Ziel zu sein glaubten, überkam uns eine wundersame Ruhe. Wir ließen die Pferde den Weg hinabtraben, und ich nahm mir gar die Zeit, nach bekannten Bauten Ausschau zu halten. In den vergangenen sieben Jahren, seit den Ereignissen um Schillers verschollenes Manuskript, waren wir nur wenige Male hier gewesen. Die Einladungen des Dichters, zu Beginn unserer Bekanntschaft eine schöne Gewohnheit, waren zuletzt gänzlich ausgeblieben.
    Das Mondlicht schälte im Osten deutlich die Anlage des Weimarer Schlosses aus der Nacht. Sein einsamer Glockenturm mit der barocken Haube überragte alle anderen Bauten der Stadt und warf seinen Schatten bis zu den Parkanlagen am Ufer der Um, unweit der Fürstenresidenz. Auch die Fürstliche Bibliothek und der wuchtige Stadtturm waren zu erkennen. Ich entdeckte die Stadtkirche zu Sankt Peter und Paul, ein hoher, spitzer Umriss mitten im Herzen Weimars, und weiter dahinter, kleiner,

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