Die Winterprinzessin
Wahrheit? Nein, Wilhelm, die kennt nur er.«
»Seht, dort!«, sagte Jade plötzlich.
Mein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. Sie deutete in den Schnee vor uns. »Was meinen Sie?«
»Spuren«, erklärte sie. »Sie sind frisch, sie gehen über die anderen hinweg. Man kann es an den Rändern erkennen.«
Ich konnte im Halblicht des Mondes nicht das Geringste erkennen, keine Spuren, geschweige denn ihre Ränder.
»Wo führen sie hin?«, fragte Jakob.
Jade brachte ihren Hengst in Bewegung. »Los!«
Und Jakob, mein Unglücksbruder, ritt tatsächlich hinter ihr her!
Ich selbst dagegen blieb stehen, zerknirscht, vor allem verängstigt. »Aber, vielleicht … ich meine, wir sollten abwägen …«
Die beiden waren anderer Meinung. Ihre Entscheidung war gefallen. Jakobs Drang, die Lösung jeden Rätsels, die Antwort auf jede Frage zu erfahren, trieb ihn hinter der Prinzessin her, direkt in die Arme unserer Gegner, fürchtete ich. Und doch, was blieb mir schon, als den beiden zu folgen?
Nach einer Weile weitete sich die Gasse auf der linken Seite zu einer offenen Wiese, die von hohen Bäumen eingefasst wurde. Am Ende des Weges erkannte ich die plumpe Silhouette des Stadtturms. Beim Näherkommen sah ich gleich daneben, im Schatten eines mächtigen Verwaltungsgebäudes, die Fürstliche Bibliothek. Goethe hatte uns einmal erklärt, dies sei einst ein altes Sommerschloss gewesen. Die Fürstin Anna Amalia hatte es gründlich überholen lassen, um dort die elftausend Bände ihrer Familienbibliothek unterzubringen – in weiser Voraussicht, denn wenige Jahre später verwüstete ein Feuer einen Großteil des Schlosses, und die wertvollen Bände wären unweigerlich zu Asche verbrannt. Allein der Umzug, seinerzeit wegen der hohen Kosten arg kritisiert, hatte die Bibliothek vor diesem Schicksal bewahrt.
Die Spuren endeten nicht, wie ich heimlich vermutet hatte, vor der Tür dieses Bücherhortes. Sie führten zwischen Bibliothek und Turm hindurch in die fürstlichen Parkanlagen am Ostrande Weimars. Zwanzig oder dreißig Schritte weit vor uns zog sich das Eisband der Um durch die verschneite Landschaft. Mond und Sternenlicht ließen die gefrorene Oberfläche des schmalen Flüsschens glitzern.
Goethe und seine Begleiter waren offenbar bis ans Ufer gegangen, hatten sich dann jedoch anders entschieden und waren dem Flussverlauf etwa fünfzig Schritt weit nach Norden bis zum Schloss gefolgt. Dort waren sie über die steinerne Brücke auf die andere Seite gelangt. Der Schnee war weit gehend unberührt, nur die Abdrücke der sechs Stiefelpaare waren jetzt selbst für Jakob und mich deutlich zu erkennen.
Bevor wir noch die freie Fläche bis zur Brücke überquerten, schlug Jakob vor, die Pferde zurückzulassen. Das verminderte zwar im Falle einer Flucht unsere Schnelligkeit, verringerte aber auch die Gefahr, dass man frühzeitig auf uns aufmerksam wurde. So ließen wir die Tiere im Schutz der Bäume stehen und setzten die Verfolgung zu Fuß fort.
Am anderen Ufer führten die Spuren wieder nach Süden. Bäume und Büsche wuchsen hier dichter als auf der Westseite, oftmals zu Hecken und Hainen verwoben. Goethe selbst hatte einst geholfen, den Park zu planen und anzulegen. Weil dazu in des Dichters Augen auch eine verwunschene Einsiedelei und eine Klosterruine samt Glockenturm gehörten, hatte er kurzerhand eine alte Strohhütte, eine Schießmauer und ihren unbenutzten Pulverturm zweckentfremden lassen.
Weiter südlich besaß Goethe ein schmuckes Gartenhaus, idyllisch abseits der Wege gelegen. Ich hatte angenommen, die Spuren würden dorthin führen, doch erneut sah ich mich getäuscht. Die Fährte verlief in einigem Abstand am Ufer entlang.
Erst auf Höhe einer Flussbiegung verschwanden die Fußstapfen in einem kleinen Wäldchen. Gedämpfte Stimmen drangen zwischen den Bäumen hervor.
Wortlos schlichen wir durchs Unterholz und näherten uns dem Herz des dunklen Haines. Die Stimmen brachen ab. Erschrocken blickten wir uns an. Schon glaubten wir uns entdeckt. Jade zog einen langen Dolch unter ihrem Wams hervor. Der Anblick der Klinge jagte mir einen Schauer über den Rücken. Noch mehr Waffen, noch mehr Blut.
Dann vernahmen wir ein Geräusch. Es klang, als grabe jemand ein Loch in die Erde. Das Schweigen der sechs wurde jetzt gelegentlich von angestrengtem Schnaufen durchbrochen. Immer wieder rammte ein Spaten in gefrorenes Erdreich, Dreck und Steine rieselten und wurden beiseite geworfen.
Durch dichtes Geäst und Buschwerk
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