Die Winterprinzessin
gelang, sich an Abzweigungen für eine bestimmte Richtung zu entscheiden, blieb mir ein Rätsel. Sie aber schien die Abdrücke von Stanhopes Pferd unter allen anderen mühelos wiederzuerkennen. Gelegentlich stieg sie aus dem Sattel, bückte sich, maß mit der Fingerspitze die Tiefe einer Hufspur und beugte sich ganz tief darüber. Und jedes Mal schwang sie sich danach mit neuem Mut auf den Rücken ihres Hengstes und erklärte voller Gewißheit, dass es keinerlei Zweifel an Stanhopes Weg gebe.
Gegen Mittag des zweiten Tages an Jades Seite kamen wir erneut an einen Gasthof, um den sich hölzerne Stallungen duckten. Er lag ganz in der Nähe einer Kreuzung zweier viel genutzter Straßen. Boten wechselten hier ihre Pferde, und Reisende bestiegen neue Kutschen. Das Haupthaus war frisch gestrichen, das Dach neu eingedeckt. Alles ließ darauf schließen, dass das Geschäft der Wirtsleute prächtig gedieh.
Hier schließlich war es, wo Stanhopes Fährte endete.
Jade bestand darauf, dass es nicht an der Vielzahl der Spuren und Abdrücke liegen könne, obgleich ich daran heimliche Zweifel hegte; selbst der beste Fährtenleser war in diesem Wirrwarr verloren. Der Schnee vor dem Gasthof war zerfurcht, an vielen Stellen breitgetreten. Es war aussichtslos, einen Hufabdruck vom anderen unterscheiden zu wollen, und obgleich Jade vorgab, anderer Meinung zu sein, ließ sie schließlich davon ab und betrat gemeinsam mit mir die Schankstube.
Jakob blieb draußen zurück. Ich hatte schon seit dem gestrigen Abend eine gewisse Verschlossenheit bei ihm festgestellt, mehr noch als in den ersten Stunden nach unserer Rettung durch Jade. Er war nicht nur in tiefes Schweigen verfallen, auch sein Blick hatte sich finster umwölkt, und mehr als einmal, wenn ich in seine Richtung sah, lag seine Stirn in sorgenvollen Falten. Er grübelte über irgendetwas nach, und es war offensichtlich, dass es keine erfreulichen Gedanken waren, die ihn derart beschäftigten.
Jade und ich traten derweil an den Tresen. Es roch nach ungewaschenen Körpern, nach feuchter Kleidung und den Resten stehen gebliebener Mahlzeiten. Im gut besuchten Schankraum erregte die exotische Schönheit der Prinzessin einiges Aufsehen. Je schneller wir weiterritten, desto besser. Sollten Dalberg, Stiller und die anderen das Scharmützel mit den Indern heil überstanden haben, würden auch sie in einigen Stunden diesen Gasthof erreichen. Jedermann würde sich an Jade und ihre beiden Begleiter erinnern, und spätestens dann würde sich des Ministers Verdacht, die Brüder Grimm seien Hochverräter, schmerzlich bestätigen.
Du bist ein Narr, Wilhelm Grimm, raunte mir eine innere Stimme zu, du fliehst nicht vor einem Minister, du fliehst vor dem Kaiser selbst. Wohin willst du gehen? Nach Kassel? Dort werden sie dich schon mit geladenen Flinten erwarten.
Die Wirtin war eine wortgewandte und kluge Frau, rothaarig und vor dreißig Jahren vielleicht eine Schönheit gewesen. Heute sah man ihr die derbe Arbeit am Ausschank deutlich an, doch es schien, als habe sie sich bei all dem einen klaren Kopf bewahrt.
Das erste Zeichen ihres Anstands war, dass sie jede Auskunft über ihre Gäste verweigerte.
»Ihr seid schwerlich Gendarmen«, stellte sie fest und unterzog vor allem Jade einer eingehenden Musterung. »Welchen Grund habt ihr, Jagd auf einen Mann und ein kleines Kind zu machen?«
Die Lüge floss Jade ganz selbstverständlich von den Lippen: »Es ist mein Kind. Und falls Sie selbst eines haben, sollten Sie meine Sorge verstehen können.«
»Ihr Kind?«, fragte sie, während ihr Blick an den beiden Rubinsteckern in Jades Nasenflügeln hängen blieb. »Warum haben Sie dann nicht die Obrigkeit eingeschaltet? Kinderdiebe scheinen mir kaum der rechte Umgang für eine junge und schöne Mutter, wie Sie eine sind.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte die Prinzessin höflich, aber mit der nötigen Distanz. »Es gibt Familienangelegenheiten, die man besser ohne die Gendarmerie regelt, meinen Sie nicht auch?«
Die Wirtin zögerte, bemerkte, dass einige Männer am Tresen aufmerksam zuhörten, und gab uns einen Wink, ihr zu folgen. »Kommt mit«, sagte sie.
Sie führte uns in die Küche und durch dichte Schwaden von Essensdüften zur Hintertür. Draußen atmete sie tief durch. Die eisige Winterluft war durchsetzt vom Geruch der nahen Ställe, aber sie war eine Wohltat gegenüber den abgestanden Dünsten im Innern der Schenke.
»Und Sie?«, wandte sie sich an mich. »Wer sind Sie?«
»Ein Freund der
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