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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erkannte ich einen Schimmer von Helligkeit. Der Mond beleuchtete eine winzige Lichtung zwischen den Bäumen, kaum größer als mein Studierzimmer, darauf drängten sich mehrere Gestalten, schwarze, vage Umrisse mit Hüten und weiten Überwürfen.
    Ein Mann hatte einen Spaten in Händen und gab sich redliche Mühe, ein Loch zu graben – Stanhope!
    Er trug weder Hut noch Umhang. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Ich konnte durch die Büsche nur seinen Oberkörper sehen, nicht aber den Boden, auf dem er stand.
    »Sieht aus, als grabe er irgendetwas aus«, raunte Jakob an meinem Ohr.
    »Wir müssen noch näher heran«, flüsterte Jade. »Ich muss wissen, ob er das Kind dabeihat.«
    »Es schreit nicht«, gab ich zurück. »Vielleicht haben sie es im Haus zurückgelassen. Wir hätten Dorothea danach fragen sollen.«
    Jakob schüttelte den Kopf. »Sie sprach nur von einem Bündel, das Stanhope bei sich trug. Hätte sie von dem Kind gewusst, so hätte sie es sicherlich erwähnt.«
    Stanhope verharrte plötzlich. Er richtete sich auf, blickte angestrengt ins Unterholz und lauschte.
    Hatte er uns bemerkt? Jetzt rammte er den Spaten ins Erdreich. Das Werkzeug glitt von der vereisten Kruste ab und fiel scheppernd zu Boden. Eine der vermummten Gestalten sprang fluchend einen Schritt beiseite. Eine andere murmelte etwas. Mehrere Köpfe drehten sich aufgeregt nach rechts und links. Mondlicht fiel auf ihre Gesichter. Alle außer Stanhope trugen schwarze Masken, die Nasen- und Augenpartie bedeckten.
    Stanhope starrte genau in unsere Richtung. Endlos lange, so kam es mir vor. Dann glitten seine Blicke weiter, tasteten über die umliegenden Büsche und Bäume. Schließlich schüttelte er unmerklich den Kopf. Er ergriff von neuem den Spaten und mühte sich weiter mit dem vereisten Erdreich ab. Keiner der anderen machte Anstalten, ihm zu helfen.
    Wir wagten nicht mehr zu sprechen, versuchten aber, näher an die Lichtung heranzukommen. Kaum mehr als fünf oder sechs Schritte trennten uns noch von der unheimlichen Versammlung.
    Und Stanhope grub und grub …
    Ich fragte mich, hinter welcher der fünf Masken sich Goethe verbarg. Ein Teil von mir verachtete ihn, ein anderer aber suchte nach Erklärungen, nach Gründen für diesen Mummenschanz.
    Krachend brach der Spaten in den Boden. Wieder und wieder.
    Jade war Jakob und mir einen Schritt voraus. Plötzlich blieb sie stehen. Sie gab keinen Laut von sich, und doch sah ich gleich, dass etwas nicht stimmte; irgendetwas war nicht so, wie sie es erwartet hatte. Und als auch ich selbst nahe genug heran war, um die Lichtung ganz zu überblicken, da begriff ich.
    Stanhope hatte nicht vor, etwas auszugraben, ganz im Gegenteil. Es war ein Begräbnis. Das Loch, das der Lord in die Erde stemmte, war nicht groß. Das Bündel mit dem leblosen Kind lag neben Stanhope am Boden. Kein Geschrei drang zwischen den Decken hervor. Kein Beinchen strampelte, keine winzige Hand tastete suchend ins Leere. Der Erbprinz von Baden, der Nachfolger des großen Napoleon, war tot.
    Ich sah, wie Jade sich spannte. Blitzschnell fuhr meine Hand vor und ergriff ihre Schulter. Ihr Gesicht raste herum, brodelnd bohrte sich ihr Blick in meinen. Heißer Zorn glühte in ihren Augen, Zorn, der sich einen Moment lang allein gegen mich richtete. Ganz kurz schien es, als wollte sie sich losreißen. Dann aber, ebenso unvermittelt, legte sich ihre Wut.
    Endlose Minuten verstrichen, in denen Stanhope weiter am Grab des Kindes hackte und grub. Niemand sprach ein Wort, reglos sahen die fünf Maskierten den Mühen des Engländers zu. Nur gelegentlich trat einer unruhig von einem Fuß auf den anderen.
    Wir getrauten uns nicht mehr, miteinander zu flüstern. In der Stille hätte man uns unweigerlich bemerkt. Alles, was uns blieb, war abzuwarten.
    Endlich war das Loch groß genug. Stanhope legte den Spaten beiseite und drückte ächzend sein Kreuz durch. Selbst er, ein Meister der Körperbeherrschung und geschult, keine Schwäche zu zeigen, stöhnte vor Erschöpfung. Der gefrorene Boden schien hart wie Stein zu sein und das Graben darin eine rechte Tortur.
    Nun bückte er sich und bettete den kleinen Leichnam, der ganz blau im Gesicht und steif gefroren war, in die eisige Grube. Einer der Maskierten, ein Geistlicher vielleicht, murmelte ein Gebet und schlug ein Kreuzzeichen. Sogleich machte Stanhope sich mit verzerrtem Gesicht daran, die Erdbrocken über das tote Kind zu schaufeln. Die Übrigen warteten geduldig, bis er damit am Ende war,

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