Die Winterprinzessin
Familie«, entgegnete ich und gab mir Mühe, meiner Stimme die nötige Festigkeit zu verleihen.
Der Wirtin war anzusehen, dass sie mir kein Wort glaubte. Trotzdem nickte sie und sagte zu Jade: »Eine Dame wie Sie sollte sich nicht zu lange auf der Straße und in Begleitung dubioser Freunde herumtreiben.« Sie rümpfte die Nase und lachte, als sie meine stille Empörung bemerkte. Von der Prinzessin aber schien sie ehrlich beeindruckt.
»Der Mann, den Sie suchen, war hier«, bestätigte sie.
»Wie geht es dem Jungen?«, fragte Jade geschwind, zum einen wohl aus Sorge um ihr Faustpfand, zum anderen, um dem Bild einer verängstigten Mutter zu entsprechen.
»Er hat während der ganzen Zeit geweint«, sagte die Wirtin. Sie sah aus, als ob sie Jades Befürchtung teilte. Es musste in der Tat schlecht um das Kind bestellt sein.
»Haben Sie den Jungen aus der Nähe gesehen?«, fragte ich.
»Nein. Der Engländer hat niemanden an das Kind herangelassen, fast als habe es Aussatz oder eine ansteckende Krankheit. Ich nahm an, es sei die Angst des Vaters um seinen Sohn. Aber hat das Kind eine Krankheit?«
»Wir wissen es nicht«, gab Jade wahrheitsgemäß zur Antwort. »Möglicherweise eine starke Erkältung.«
Die Wirtin nickte verständnisvoll. »Das ist gefährlich bei kleinen Kindern.« Plötzlich lachte sie rau. »Himmel, mein Alter ist an der Grippe eingegangen.«
»Haben Sie Dank für Ihr Mitgefühl.« Unmöglich, mir das zu verkneifen. »Wo ist der Engländer hingeritten?«
»Nirgends ist er hingeritten«, erwiderte sie. »Ich hab sein Pferd hinten im Stall stehen, er hat es mir verkauft. Spottbillig, noch dazu.«
»Was?«, entfuhr es mir.
Jade blieb ruhig, als hätte sie derlei erwartet. »Aber er ist doch nicht mehr hier, oder?«
Die Wirtin schüttelte die rote Mähne. »Nein, natürlich nicht. Eine Kutsche hat ihn und das Kind abgeholt, erst heute früh.«
»Was für eine Kutsche war das?«
»Ein schwarzer Zweispänner. Vier Sitze.«
»Haben Sie den Kutscher gesehen? Kannten Sie ihn vielleicht?«, wollte Jade wissen.
»Er ist nicht hereingekommen. Soll vermummt auf seinem Kutschbock gesessen haben, stundenlang, vorne an der Kreuzung. Und das fünf Tage hintereinander, jeden Vormittag. Wie es aussieht, hat er Ihren Engländer erwartet. Wenn der nicht kam, ist er um die Mittagszeit verschwunden, Tag für Tag. Heute Morgen hat sich seine Warterei dann gelohnt.«
Jade warf mir einen alarmierten Blick zu. Jetzt hatten wir es nicht mehr mit einem, sondern mit mindestens zwei Gegnern zu tun. Und wahrscheinlich warteten dort, wo die Kutsche Stanhope hinbrachte, noch einige mehr.
»Sie wissen nicht, in welche Richtung sie gefahren sind?«, fragte Jade heiser.
Die Wirtin sah sie mit ehrlichem Bedauern an. »Das tut mir Leid. Ich habe nicht zugesehen, als sie abfuhren.«
»Wie viele Kutschen kommen am Tag an dieser Kreuzung vorbei?«, erkundigte ich mich mit schwankender Stimme.
»Ein paar Dutzend wohl.«
Die vage Hoffnung, irgendwelchen Spuren zu folgen, war damit ebenfalls hinüber. Unsere Suche war am Ende. Stanhope hatte gewonnen. Und schlagartig wurde mir klar, was das für Jade bedeuten musste. Sie war nun gezwungen, ohne das Heiligtum in ihre Heimat zurückzukehren. Ohne das Kind konnte es keinen Handel mit Napoleon geben. Dafür erwartete sie am Hof ihres Vaters der Tod. Sie würde ebenso enden wir ihre Brüder.
Die Prinzessin aber schien sich keineswegs geschlagen zu geben. Ihre hellbraune Haut hatte ein leichtes Grau angenommen, der Schreck saß tief, doch in ihren Augen brannte noch immer das alte Feuer.
»Ist das alles, was Sie uns sagen können?«, fragte sie die Wirtin.
Das Schankweib nickte. »Ich fürchte, ja. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen – aber, nein, das war ein dummer Rat. Natürlich nehmen Sie es sich zu Herzen.« Sie ergriff Jades schmale Schulter und drückte sie aufmunternd. Zu meinem Erstaunen ließ die Prinzessin es widerspruchslos geschehen. »Geben Sie jetzt nicht auf. Sie werden ihn schon finden. Wollen Sie was trinken, das Sie aufwärmt? Einen Glühwein? Schnaps? Alles was Sie mögen, auf Kosten des Hauses.«
»Haben Sie Dank«, entgegnete Jade. »Vielleicht ein wenig Hafer für die Pferde. Wir müssen so schnell wie möglich weiter.«
»Ich fürchte, ich war Ihnen keine große Hilfe.« An mich gewandt, meinte die Wirtin: »Wer immer Sie sind, kümmern Sie sich um sie.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand durch die Hintertür ins Haus. Jade und ich
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