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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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letzten Stufen hinauf, darauf bedacht, dem vorstoßenden Schädel des Schaukelpferdes auszuweichen. Es stand gleich neben der Luke im Dunkeln, ein geschnitztes, hässliches Ding mit funkelnden Augen aus Glas.
    Im Sattel saß ein altes Weib, Runhild, die Märchenfrau. Kein Zweifel, sie war es, die wir suchten.
    »Oha!«, rief sie lachend aus. »Ihr seid mir ja recht große Kinder, wenn ich euch so beschaue.«
    Wir stellten uns vor, konnten ihr aber nicht die Hand schütteln, denn ihre Finger waren in die Mähne des Pferdes verkrallt. Auch jetzt machte sie keinerlei Anstalten, mit dem Schaukeln aufzuhören. Vor und zurück wippte das Pferdchen, vor und zurück. Das trübe Kerzenlicht, das von unten durch die Luke fiel, verlieh den Zügen der Alten etwas Gespenstisches.
    »Ich deute den Menschen die Zukunft«, sagte sie, »das ist meine Berufung. Sie alle wollen ihr eigenes Märchen hören, ganz gleich, ob Groß oder Klein.«
    Jakob bat sie, uns einige ihrer Geschichten zu erzählen, von denen wir durch Brentano gehört hatten (mochte der Leibhaftige wissen, wie er an diese Alte geraten war). Mein Bruder erklärte auch, dass wir ihre Märchen mitschreiben und später veröffentlichen wollten. Erstaunlicherweise begriff sie sofort, um was es ging, und erklärte sich gegen geringe Entlohnung einverstanden. Jakob bezahlte sofort.
    Kurz darauf saß sie an ihrem Spinnrad im Erdgeschoss und begann, es mit flinken Fingern zu bedienen. Wir kauerten auf zwei winzigen Schemeln, die wohl eher für die Kinder gefertigt waren, die sonst ihre Gäste waren. Im Licht der Kerze vermochte ich Runhild erstmals in genaueren Augenschein zu nehmen. Sie trug Kleid und Schürze, und auf ihrem Kopf saß eine Haube, die ihr Haar verbarg. Sie war so alt, dass ich mir eine verlässliche Schätzung nicht zutrauen mochte. Sicherlich war sie über achtzig.
    Bevor wir Platz genommen hatten, hatte sie ein paar Holzspäne in den Ofen gesteckt, sodass uns nun wohlige Wärme umhüllte. Ich fragte mich, was sie in den Hunderten von Schalen und Töpfchen aufbewahrte, die in den Schränken aufgereiht waren, fand aber keine Antwort darauf.
    »Es war einst ein König, der hatte eine Tochter«, begann sie und spann dabei ihr Garn. »Als die Prinzessin groß genug war, um eigene Gedanken zu fassen, da fragte sie den König: ›Vater, sag mir, warum ist unser Reich kleiner als das des Königs im Norden?‹ Da antwortete der Vater: ›Weil der Waldriese von unserem abgebissen hat.‹ Die Prinzessin gab sich eine Weile zufrieden, dann fragte sie: ›Aber, Vater, warum sind unsere Türme nicht so hoch wie die der Königsburg im Süden?‹ Ihr Vater erwiderte: ›Weil der Waldriese die unseren umgeblasen hat.‹ Einige Wochen vergingen, dann wollte die Prinzessin wissen: ›Vater, warum tragen unsere Bäume nicht so schöne Äpfel wie die der Bauern im Osten?‹ Und der König antwortete geduldig: ›Weil der Waldriese unter unseren geschlafen hat.‹
    Lange Zeit schwieg die Prinzessin, bis sie eines Tages sah, dass die Händler auf dem Burghof ihre Stände abbrachen und zum Tor hinauszogen. Da fragte sie den König: ›Sag mir, Vater, warum verlassen uns diese Händler und ziehen gen Westen?‹ Der Vater dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: ›Im Westen wohnt der Waldriese, und er hat ihnen allen Reichtum und Glück versprochene – ›Dann sollten auch wir zu ihm gehen‹, schlug die Prinzessin vor, doch ihr Vater wurde wütend und schickte sie davon. Der Gedanke an die Geschenke des Riesen aber ließ ihr keine Ruhe, und so sprang sie in der Nacht vom Turmfenster in den Burggraben und schwamm eilig an Land. Auf diese Weise nämlich musste sie nicht an den Wachen vorüber, die sie sicher nicht fortgelassen hätten. Die Prinzessin zog sich die Böschung hinauf und lief, so schnell ihre zarten Füße sie trugen, in den westlichen Wald hinein. ›Riese!‹, rief sie, während sie durchs Unterholz irrte. Und immer wieder: ›Wo bist du, Riese?‹ Doch sie erhielt keine Antwort.
    Die Prinzessin suchte weiter, und dabei stieß sie immer tiefer in die Wälder vor, ohne eine Spur des Giganten zu finden. Als schließlich der Morgen dämmerte, gab sie ihre Suche schweren Herzens auf. Nun wollte sie zurück zum Schloss ihres Vaters, doch sie hatte sich verirrt und brauchte fast den ganzen Tag, ehe sie wieder zum Waldrand fand. Erleichtert, mit wirrem Haar und schmutzigem Kleidchen, lief sie zur Zugbrücke und rief zum Wachmann hinauf: ›Lasst mich ein, guter Mann, ich

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