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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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bin die Prinzessin!‹ Der Wachmann musterte sie misstrauisch, dann lachte er. ›Du willst die Prinzessin sein? Nichts als ein Bettelweib bist du. Schau dich doch an!‹ – ›Aber ich bin es wirklich. Erkennst du mich denn nicht?‹, fragte sie verzweifelt. Der Wächter aber schüttelte nur den Kopf. »Unsere Prinzessin«, so sagte er stolz, ›wird von Tag zu Tag schöner. Du aber siehst so aus, wie unsere Prinzessin gestern aussah. Du kannst also nicht sie sein.‹ Und damit schickte er sie fort, mit der Drohung, wenn sie je wiederkäme, würde er sie im Graben ertränken.
    Die unglückliche Königstochter verstand plötzlich, dass ihr Vater sie auf die Probe gestellt hatte. Er hatte ihr vom reichen Waldriesen erzählt, um herauszufinden, ob sie der Versuchung widerstehen würde – denn nur dann war sie ihm eine würdige Nachfolgerin auf seinem Thron. Sie aber war ihrer Gier gefolgt und hatte dem Schloss den Rücken gekehrt.«
    Die alte Märchenfrau verstummte und fädelte an ihrem Spinnrad.
    Jakob, der fleißig mitgeschrieben hatte, besah sich im Zwielicht seine Notizen. »Ein feines Märchen, fürwahr.«
    Ich stimmte zu, in der Hoffnung, der Alten noch weitere Geschichten zu entlocken. »Prächtig, prächtig, in der Tat.«
    Runhild blickte auf und lächelte milde. »Aber ich bin noch nicht am Ende«, schnarrte sie. »Ihr Jungen seid immer so ungeduldig.«
    »Verzeiht«, bat ich kleinlaut, während Jakob wieder die Feder ansetzte.
    Die Alte fuhr fort: »Die Prinzessin streifte lange Zeit durch die Welt, immer auf der Suche nach Glück und Wohlstand, denn trotz der Lehre, die sie erfahren hatte, mochte sie vom Reichtum nicht lassen. Und je länger sie arm durch die Straßen irrte, desto übermächtiger wurde ihr Wunsch, wieder Gold zu besitzen und Pferde und Wiesen und Wälder und Schlösser. Finster waren ihre Gedanken, und wenngleich ihr die Schönheit erhalten blieb, so wurde sie doch innerlich hässlich und böse.
    Auf ihren Wegen lernte sie zwei Brüder kennen. Beide waren schlaue Köpfe mit großer, gelehrter Zukunft, doch als sie die Prinzessin erblickten, da verwirrten sich ihre Gedanken, und all ihr Streben galt fortan dem Ziel, das schöne Mädchen zu freien. So sagte der eine zum anderen: ›Was willst du mit ihr? Sie wird dich ins Unglück stürzen.‹ – ›Mir ist sie gleichgültige schwindelte der andere, ›doch was ist mit dir? Willst du dein Glück für sie aufs Spiel setzen?‹ – ›Ich will nichts von ihr‹, behauptete der erste, und so ging es immerzu, Tag für Tag, und keiner wollte zugeben, dass er im Geheimen längst alles tat, um die Prinzessin für sich zu gewinnen.
    Jene aber war in ihrer üblen Art nur zu glücklich über das verzweifelte Tun der Brüder, denn obgleich einer allein ihr zu minder war, glaubte sie doch, mit beiden gemeinsam eine gute Partie zu machen. Wie aber sollte ihr das gelingen?
    Schließlich tat sie, als gewähre sie jedem der beiden ihre Liebe, freilich ohne dass der andere davon wusste. Sie ließ sich große Geschenke machen, erst süße Leckereien, dann Kleider und schließlich Gold und Edelsteine. Obwohl jeder für sich nicht genug besaß, um sich reich zu nennen, so waren sie doch zusammen durchaus vermögend und willig, mit der Liebsten zu teilen.
    Die Prinzessin saugte jeden Kreuzer aus ihren Taschen, und als kein Geld mehr da war, da verschlang sie auch ihre Sanftmut und schließlich das Leben der beiden. Das war keineswegs schwer, denn nachdem sie der Brüder überdrüssig geworden war, gestand sie jedem ihre Liebe zum andern. Daraufhin trafen sich die beiden und hieben so lange mit ihren Säbeln aufeinander ein, bis nur noch Stücke im grünen Wiesengrund lagen. Die sammelte die Prinzessin auf, legte sie in einen Korb und stellte ihn an den Waldrand. Und, siehe da, nur wenig später kam der Waldriese zum Vorschein, den sie als Kind vergeblich gesucht hatte, und nahm die Überreste der unglücklichen Brüder an sich. Riesen, müsst ihr wissen, haben auch riesigen Hunger, und dieser hier war keine Ausnahme. Die Brüder waren ihm rechte Leckerbissen, und er verspeiste sie an Ort und Stelle. Die Prinzessin, die all das im Verborgenen beobachtet hatte, sprang aus ihrem Versteck, und alles kam, wie sie es geplant hatte. Der Riese entdeckte sie, schloss sie in sein Herz und machte sie zu seiner Frau. Es dauerte nicht lange, da hatte sie alle Macht über ihn gewonnen und stachelte ihn auf, gegen die Burg ihres Vaters zu ziehen. Der Riese, eigentlich ein

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