Die Winterprinzessin
zahmer Tölpel, tat, was sie verlangte. Er ertränkte die Wächter im Graben, fraß den König und schenkte seiner Braut den Thron. Jene aber, endlich ans Ziel ihrer Wünsche gelangt, ließ zwei kleine Grabsteine am Waldrand errichten, für jeden der Brüder einen. Und immer, wenn sie vom Turm auf sie herabsah, da lachte sie und dankte Gott für die Torheit dieser Narren.«
Noch lange nachdem die Alte geendet hatte, herrschte Schweigen. Nur das Surren des Spinnrads war zu hören. Jakob war kreidebleich geworden. Während der letzten Minuten hatten seine Finger sich geweigert, weiterzuschreiben, und so war das Ende der Geschichte, zumindest auf dem Papier, offen geblieben.
Auch ich saß wie versteinert da. Ich fragte mich, ob all das wirklich Zufall war: die Prinzessin, die beiden Brüder, der unglückliche Ausgang. Vor allen Dingen aber beschäftigte mich plötzlich eine andere Frage: Hatte auch Jakob einen Blumenkranz in seinem Gepäck gefunden?
Er fand als Erster seine Stimme wieder. »Haben sich diese beiden Brüder nicht sehr dumm verhalten?«, fragte er die Alte.
Runhild lächelte milde, während ihr die Fäden durch die Finger huschten. »Fünf Fragen und fünf Teufel gibt es, welche die Menschen regieren. Nur sie tragen die Schuld an allem – auch am Schicksal der Brüder. Wenn nicht die Teufel, dann die Fragen, oder umgekehrt.«
Wie hätten wir damals bereits begreifen können, wovon sie sprach?
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich mit erstickter Stimme. Es ist nur ein Märchen, versicherte ich mir. Aber gab es das: nur ein Märchen?
»Karlsruhe ist eine merkwürdige Stadt«, entgegnete die Alte »Es wird viel über sie gemunkelt, über die Stadt und ihre Gründer. Viel Rätselhaftes geschieht hier.«
Obgleich mir nicht klar war, was dies mit der Geschichte der Brüder zu tun hatte, wagte ich nicht, sie zu unterbrechen. In den Worten alter Menschen liegt trotz aller Wirrnis oft eine tiefere Weisheit. Auch Jakob wusste das und schwieg.
»Habt ihr die hölzerne Pyramide auf dem Marktplatz gesehen?«, fragte die Alte. Wir schüttelten die Köpfe. »Sie wurde über dem Grab des Markgrafen Carl Wilhelm errichtet, jenes Mannes, der Karlsruhe vor einem Jahrhundert gründete. Scheint euch eine Pyramide als Grabstein nicht höchst ungewöhnlich, gerade in unseren Breiten? Niemand weiß, was sie wirklich bedeutet. Es gab ein paar kümmerliche Erklärungen der Obrigkeit, nichts sagendes Geschwafel – aber die Wahrheit, die kennt keiner, nämlich das geheime Erbe, das in dieser Stadt gepflegt wird. Wer aufmerksam durch die Straßen geht, bemerkt an vielen Stellen Obelisken und seltsame Säulen. Das Wappentier der Stadt ist der mythische Greif, und wenn ihr euch den Plan der Stadt genauer betrachtet, so werdet ihr entdecken, dass ihr Aufbau Kreis und Dreieck darstellt. Der achteckige Bleiturm des Schlosses, in dem Carl Wilhelm einst seine hundertsechzig Kurtisanen hielt, bildet den Mittelpunkt eines Runds aus Bauten und Gartenwegen. Zugleich ist er die obere Spitze des Straßendreiecks, das im rechten Winkel von ihm fortläuft.«
Plötzlich war mir, als spräche nicht mehr die Märchenfrau. Ihr Tonfall war anders, sogar die Art, wie sie Sätze baute – ganz zu schweigen vom Inhalt ihres Vortrags. Hätte ich es nicht mit eigenen Ohren vernommen, ich hätte nicht glauben mögen, dass die Worte dem Mund einer solchen Greisin entstammten.
Die Alte fuhr fort: »Kreis und Dreieck, das sind Zirkel und Winkelmaß. Sie versinnbildlichen das Weibliche und das Männliche in der Natur, Ursymbole, die unser aller Dasein bestimmen. Diese Stadt ist ein geheimes Denkmal. Sie ist der Altar uralten Denkens, im Guten wie im Schlechten. Was immer hier geschieht oder noch geschehen mag, liegt außerhalb der Gesetze des Schicksals. Hier sind andere Mächte am Werk. Deshalb, meine Kinder, gedenkt der fünf Großen Fragen.«
»Welche fünf Fragen?« In Jakobs Augen loderte die Wissbegier.
»Ihr kennt sie längst«, behauptete die Alte. »Sie sind die fünf Spitzen des großen Pentagramms. Gemeinsam bilden sie die Quinta Essentia, die fünfte Wesenheit des Seins. In der Kabbala ist die Fünf das Symbol der zusammengesetzten Kraft.«
Das reichte. Ich sprang vom Schemel und packte Jakob beim Arm. »Lass uns gehen«, verlangte ich grob.
»Warte noch«, entgegnete er, ohne mich anzusehen. »Welches sind diese fünf Großen Fragen, Frau Runhild?«
Die Alte grinste zahnlos. » Warum ist die älteste. Ihr folgen Wie, Wer, Wo und
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