Die wir am meisten lieben - Roman
Teufel ist in dich gefahren?«
»Frag deine Tochter! Oder hast du mehrere? Frag sie alle!«
»O Gott, Diane! Um Himmels willen …? Ist sie wieder aufgetaucht? Du weiß ja nicht, wie lange ich es dir schon sagen will –«
»Ach wirklich?«
»Das Mädchen ist gestört.«
»Das überrascht mich nicht, so wie Dolores sie weggescheucht hat, als wäre sie eine Bettlerin.«
Das waren genug Sachen. Sie warf ein Paar Schuhe in den Koffer, dann ein Paar Wanderstiefel, schließlich ging sie ins Badezimmer und füllte ihre Kosmetiktasche. Sie hätten alles überdenken sollen, aber sie war zu aufgebracht, nicht nur wegen Ray, sie war auch wütend auf sich, weil sie sich so lange etwas vorgemacht hatte. Als sie ins Schlafzimmer trat, zog er eine Jeans an. Unbeholfen hüpfte er von einem Bein auf das andere. Sie ging an ihm vorbei, schloss den Koffer, riss ihn vom Bett und steuerte auf die Tür zu.
»Tommy?«
»Ich komme!«
»Diane, lass uns reden. Ich muss dir so vieles sagen«, rief Ray.
»Das kann ich mir denken. Tommy, bist du fertig?«
Diane stand auf dem Treppenabsatz, stellte den Koffer ab |314| und wartete auf Tommy. Er kam aus seinem Zimmer und schleppte eine Tasche, aus der die Sachen quollen. Ray war ihr gefolgt, sein Oberkörper war nackt, der Geruch von Alkohol strömte aus seinen Poren.
»Diane, bitte.«
»Wohin gehen wir?«, fragte Tommy.
»Nirgendwohin, mein Sohn«, sagte Ray. »Deine Mom ist nur ein bisschen außer sich. Wir klären das. Geh wieder in dein Zimmer!«
Diane legte ihre Hand auf Tommys Schulter.
»Ist schon gut, Tommy. Gehen wir.«
»Diane!«
Ray ergriff ihren Arm.
»Lass mich los!«
Sie versuchte sich loszureißen. Mit der anderen Hand packte er sie an der Schulter, sie holte aus, aber er hielt sie fest und ohrfeigte sie. Diane schrie auf. Tommy schrie ebenfalls. Sie kratzte Ray im Gesicht. Er stieß sie so brutal zurück, dass sie stolperte und mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Tommy schrie wieder auf. Ray stand nur da, starrte auf sie, mit rot unterlaufenen Augen und offensichtlich schockiert darüber, was er getan hatte.
Dianes Lippe war aufgesprungen. Sie schmeckte Blut und wischte es mit dem Handrücken ab. Langsam kam sie auf die Beine. Ohne ein weiteres Wort nahm sie den Koffer und eilte mit Tommy die Treppen hinab, an Dolores vorbei, die im Korridor augenscheinlich Gefallen an der Darbietung fand. Dann waren sie draußen und warfen Koffer und Tasche auf den Rücksitz des Galaxie. Miguel wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.
»Nein«, sagte Diane. »Nichts ist in Ordnung.«
Sie öffnete die Tür, schob Tommy auf den Beifahrersitz, stieg ein, schlug die Tür zu und startete den Motor. Sie blickte sich nicht mehr um. Sie wusste aber, dass Ray in der Tür stand, Dolores hinter ihm, und sie konnte sich das stolze Grinsen lebhaft |315| vorstellen. Als sie durch das Tor fuhren, schaute Diane sich nach dem Mädchen um. Vergeblich. Sie fuhr den Hügel hinab und beschleunigte. Bald war das Haus außer Sichtweite.
Beide sprachen sie lange kein Wort. Auf dem neuen Freeway fuhren sie in Richtung Norden. Tausende von Autos rollten in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorbei, und der Himmel über ihnen wurde klar.
Irgendwann, leise und ohne sie anzusehen, fragte Tommy, wohin sie führen.
»Wie wär’s mit Montana?«, fragte sie.
|316| SECHSUNDZWANZIG
McKnight hatte recht gehabt. Private Eldon Harker sah so glatt und unangreifbar aus wie geschliffener Granitstein. Nicht ein Riss. Nach dem, was Danny erzählt hatte, hatte Tom sich einen verstohlen blickenden Jungen vorgestellt, dessen eigennützige Lügen für alle durchschaubar waren. Stattdessen erschien ein Mann, den die Marine für eine Rekrutierungskampagne hätte nutzen können. Aufrechte Haltung, attraktiv, seine Antworten selbstbewusst, kein Anflug von Arroganz. Der Typ war der perfekte Zeuge und hervorragend vorbereitet.
Richards stellte ihm routinemäßig ein paar Eingangsfragen, die ihn als den makellosen, standhaften Soldaten porträtieren sollten, dann begann er, die Ereignisse zu rekonstruieren.
»Hatten Sie den Eindruck, dass irgendjemand in der Gruppe auf dem Hof verdächtig oder gefährlich war?«
»Nein, Sir. Sie waren alle zu ängstlich.«
»Hatten Sie unter den Irakern einen einbeinigen Mann bemerkt?«
»Ja, Sir, das hatte ich.«
»Sie haben ihn gesehen?«
»Ja, Sir.«
»Wann zum ersten Mal?«
»Sofort, Sir.«
»Und Sie haben sofort bemerkt, dass er nur ein Bein hatte?«
»Nein, Sir, nicht
Weitere Kostenlose Bücher