Die wir am meisten lieben - Roman
verärgert gewesen. Sie konnten einfach nicht begreifen, wie es sein konnte, dass Diane Reed, die so begierig nach ihrer Aufmerksamkeit war, den letzten Akt nicht vollführte. Oft warfen diese armen verletzten Kreaturen (Männerstolz war lächerlich zerbrechlich), die ihre Zeit und Gefühle und wahrscheinlich etliche teure Abendessen investiert hatten, ihr vor, frigide zu sein und herzlos oder – und das war die schlimmste Beleidigung –
eine Aufgeilerin
.
Als Diane sich dann irgendwann doch zu dem letzten Schritt mit einem Mann durchrang, war es mehr aus wiederentdeckter Neugier auf Sex als aus Leidenschaft. Sie war froh, als sie dahinterkam, dass Ernüchterung nicht notwendigerweise dazugehörte – Liebe jedoch auch nicht. Vielleicht war die Liebe, egal in welcher Form, endlich. Denn jeder hatte nur eine bestimmte Menge zu geben.
Wenn es so war, dann gab Diane ihre ganze Liebe Tommy. Sie fuhr nach Hause, um ihn zu sehen, wann immer sie konnte. Sie rief ihn an, bevor er auch nur das erste Wort von sich gab. Wenn sie auf Tournee war, in irgendeiner weit entfernten Stadt, dann beeilte sie sich, am Samstagabend nach der Vorstellung zum Bahnhof zu kommen und den letzten Zug zu erwischen, damit sie wenigstens einen Tag mit ihm verbringen konnte.
Vorzugeben, dass sie nur seine ältere Schwester war, wurde |141| von Jahr zu Jahr schwerer. Und mit ansehen zu müssen, mit welchem Überdruss ihre Mutter den Jungen behandelte, als sei es eine Last, etwas für ihn zu tun, beruhigte ihr Gewissen keineswegs. Wenn sie auch nur die leiseste Kritik äußerte, betonte ihre Mutter, dass diese Farce Dianes Idee gewesen war. Für gewöhnlich garnierte sie ihre Bemerkungen mit einem Hinweis auf Dianes sorgenfreies, vergnügungssüchtiges, ja sogar dekadentes Leben, das sie aufgrund dieses Arrangements führen konnte.
Dass Tommy sich zu einem – sogar sie, die sie vernarrt in ihn war, musste sich das eingestehen – sonderbaren Kind entwickelte, verstärkte ihr Schuldgefühl nur noch. Seine Marotten – die Bettnässerei, die Besessenheit von Cowboys und Indianern, die Art, wie er im Schlaf wimmerte und schreiend aufwachte und oftmals laut mit den Bildern von Flint McCullough redete –, all das schrieb sie ihrem Mangel an Anwesenheit und der Lüge zu, auf die sie sich eingelassen hatte. Nach und nach warf all das einen Schatten auf ihren Erfolg.
Sie liebte die Schmeicheleien, die Standing Ovations, die glühenden Kritiken, das Treiben am Bühneneingang und das Blitzlichtgewitter. Aber eine Hälfte von ihr stand neben ihr, beobachtete all das schon fast mit Hohn. Diese Neigung, sich abzukapseln, beunruhigte sie, denn manchmal passierte es auf der Bühne. Als
Fortune’s Fool
die begehrteste Show in London war und die ganze Welt darüber zu sprechen schien, ertappte Diane sich dabei, wie lächerlich sie all das fand. All diese Erwachsenen, die so taten
als ob
.
Merkwürdigerweise beeinträchtigte das ihre Darbietung nicht im Geringsten. Oder vielmehr, niemand bemerkte es – und natürlich wagte sie es nicht, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, denn heutzutage ging es bei der ernsten Schauspielerei um
das Sein
und nicht um
den Schein
.
Die großen alten Mimen – Gielgud, Redgrave oder sogar Olivier – mit ihrer Ritterlichkeit und ihrem Manierismus wurden |142| als Dinosaurier verspottet. Bei den jungen Regisseuren und Schauspielern waren Stanislawski oder Lee Strasberg in aller Munde und
Method-Acting
und dass der einzige Weg zu wahrer Schauspielerei allein über das Eintauchen in die eigene Psyche gelingen konnte, durch Reaktivierung der Gefühle, die durch reale Erlebnisse im eigenen Leben ausgelöst worden waren, um sie dann dem Charakter einzuhauchen, den man verkörpern sollte.
Diane war in alledem so gut wie ihre Kollegen. Und die Gefühle, die sie heraufbeschwor, schöne oder traumatische, hatten ausnahmslos mit Tommy zu tun. Während viele ihrer Kollegen Tränentropfen brauchten oder Menthol, das ihnen in die Augen geblasen wurde, konnte Diane auf Befehl Tränen hervorholen. Sie musste nur an ihren verlorenen Sohn denken. In den ersten Tagen von
Fortune’s Fool
hatte sie sich sein Unglück in Ashawn zunutze gemacht, hatte seinen verzweifeltsten aller Briefe mit sich herumgetragen und ihn vor ihrer tragischen Schlussszene gelesen. Jetzt, da der Ruhm zum Greifen nah war, schämte sie sich, dass sie Tommy als Quelle für ihre Zwecke benutzte. Die Ironie war geradezu lächerlich. Sie hatte das erreicht, was sie
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