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Die Witwe

Die Witwe

Titel: Die Witwe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carter Brown
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große Prophet wird am
heutigen Tag von uns scheiden. Niemals wieder wird sein leidenschaftlicher
Glaube uns zur Anbetung beim Abschied des Sonnengottes am Abend und bei seiner
Wiederkehr am Morgen aufrufen. Niemals wieder werden wir die Wärme und den
Trost seines Glaubens verspüren. Aber mit ihm können wir uns über seine ewige
Vereinigung mit dem Sonnengott freuen.«
    Ihre Stimme hob sich erneut.
»Aber wenn er von uns gegangen ist, so wird an diesem Ort, an dieser Stelle, an
der ich jetzt stehe, ein prachtvoller Tempel errichtet werden zum ewigen
Andenken an dieses einmalige und wundervolle Ereignis. Ich bitte aufrichtig
alle die, welche noch kein Opfer gebracht haben, zu den Kosten dieses Tempels
beizutragen. Gebt und gebt großzügig, denn nie werden wir auf Erden eine solche
Gläubigkeit erleben wie die des Propheten des Sonnengottes!«
    Eloise senkte demütig für ein
paar Augenblicke den Kopf und trat dann vom Altar herab, während ihr die Leute
Platz machten.
    Der Prophet trat vor, mit
hocherhobenem Kopf und aggressiv sich sträubendem Bart. »Meine Freunde — «, er
streckte beide Arme zur Menge hinaus, »die ihr mit mir den Sonnengott verehrt!
Die Freude, der Stolz, der Jubel, die ich am heutigen Tag empfinde, kann ich
euch nicht beschreiben. Innerhalb weniger Minuten werde ich euch nun für immer
verlassen, um mich mit dieser herrlichen, ewig währenden Wärme und diesem Licht
zu vereinen, das der Sonnengott selber ist. Welches Glück ich empfinde!«
    Ich wandte den Feldstecher von
seinem Gesicht ab und versuchte, Eloise in der Menge zu finden, aber es gelang
mir nicht. Ich hörte die Stimme des Propheten weiterdröhnen, ohne auf die Worte
zu achten. Immer wieder durchsuchte ich das Gedränge nach Eloise, aber sie war
spurlos verschwunden.
    Ich zündete mir eine neue
Zigarette an und blickte auf meine Uhr. Noch genau zwei Minuten, bis die Sonne
hinter dem Bald Mountain unterging. Dann richtete ich erneut den Feldstecher
auf den Propheten.
    Die untergehende Sonne hinter
ihm zeichnete seine Gestalt wie auf flammendem Goldgrund ab. Ich kniff die Augen
zusammen, als mich die Strahlen durch das Glas hindurch blendeten. Es war fast
unmöglich, irgend etwas klar zu erkennen.
    »Ich gehe nun, meine Freunde,
meine Jünger«, rief der Prophet frohlockend. »Und wenn ich gegangen bin, so
müßt ihr den herrlichen Tempel bauen, der für immer auf dem Gipfel des Bald
Mountain stehen wird, damit die Menschen niemals die Macht des Sonnengottes und
seine Vereinigung am heutigen Tag mit seinem Propheten vergessen mögen!«
    Langsam drehte sich der Prophet
um, so daß er direkt in die Sonne blickte. Er hob beide Arme in einer Geste des
Willkomms dem goldenen Himmelskörper entgegen.
    »Mächtiger Sonnengott!« Seine
Stimme vibrierte machtvoll. »Erfülle meine Prophezeiung! Nimm mich, deinen
gläubigen Propheten, bei dir auf, damit ich mit dir eins werde! Laß dies ein
unsterbliches Zeugnis deiner Größe werden!«
    Er ließ plötzlich die Hände
herabsinken, und für eine Sekunde herrschte Schweigen. Der Rand der Sonne sank
unter den Gipfel des Bald Mountain, und in der Menge begann jemand hysterisch
zu schreien.
    Es gab einen schwach
knisternden Laut, und dann schien sich eine mächtige Rauchwolke vom Boden zu
erheben und hüllte den Altar samt der Gestalt des Propheten ein.
    Von allen Seiten ertönten
Schreie aus der Menge, und ich hielt mir selber den Daumen, daß Polnik besser
sehen konnte als ich durch meinen Feldstecher. Für mich war lediglich die dicke
Rauchwolke zu erkennen.
    Für, wie mir schien, endlos
lange Zeit hing der Rauch wie ein undurchdringlicher Vorhang in der Luft. Dann
trieb er langsam ab, und die klaren rechteckigen Umrisse des Altars wurden
wieder sichtbar.
    Aus der Menge stieg ein Geheul
auf, als die letzten Rauchfetzen davongetrieben waren.
    Der Prophet war verschwunden.
    Ich blickte noch ein paar
Sekunden lang hinüber und sah, wie die dem Altar zunächst stehenden Leute
vorwärts rannten. Schließlich konnte ich Polnik entdecken. Ich sah sein vor
Entschlossenheit gerötetes Gesicht, als er um den Altar herumstampfte und dann
bis zum Rand des Ausläufers trat. Ich sah, wie er dort stehenblieb und in die
zweihundertfünfzig Meter Tiefe bis zur Talsohle hinabstarrte. Er schüttelte
bedächtig den Kopf, und ich sah, wie ein Ausdruck völliger Verwirrung auf sein
Gesicht trat.
    Dann wandte ich den Feldstecher
wieder in anderer Richtung. Polnik sollte, so gut er konnte, nach dem
verschwundenen

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