Die Witwen von Paradise Bay - Roman
dem nahenden Tod meiner Mutter zusammentrifft, ist nicht zu rütteln.
Charlie bringt nur heraus: »Was für’n Scheiß, Prissy.«
Wir setzen uns und schauen meine Mutter an. Es kommt mir vor, als hielten wir uns schon seit Tagen an jedem einzelnen Atemzug fest, als wäre es ihr letzter, dabei sind erst zwei Stunden vergangen. Manchmal zucken ihre Lider, und sie murmelt Unverständliches im Schlaf. Ob sie weiß, wo sie ist und wer bei ihr ist? Ich fahre sanft über die hervorstehenden blauen Adern auf ihren Händen, glätte ihr weißes Haar und zupfe ihr alle zehn Minuten die Kissen zurecht.
Charlie sitzt in Moms Rollstuhl und bewegt sich darin unablässig vor und zurück. Die ständige Bewegung geht mir auf die Nerven, ich kann mich nicht richtig auf meine Mutter konzentrieren. Ich werfe meinem Bruder einen drohenden Blick zu, den er entweder missversteht oder absichtlich ignoriert, denn er rollt weiterhin über den Holzboden, vor und zurück.
Howie drückt sich in Türnähe herum und bietet uns Tee und Kaffee an. Ihm widerstrebt das Ganze, er hat mehrmals gefragt, ob er nicht doch den Notarzt oder Moms Arzt anrufen soll. Er hat sogar angeboten, meine Mutter selbst ins Krankenhaus zu fahren, wahrscheinlich meint er, dies hier sei anstößig oder gesetzeswidrig.
Quentin sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, fühlt sich sichtlich unwohl dabei. Er sollte auch nicht unbedingt hier bleiben und seiner Großmutter beim Sterben zusehen. Er ist schließlich noch ein Kind, obwohl Charlie und ich beim Tod unseres Großvaters deutlich jünger waren.
Wir hatten am Küchentisch gesessen und Karten gespielt, weil es regnete. Ich war zehn, Charlie sieben, ich erteilte ihm gerade eine Lektion, weil er geschummelt hatte, da klingelte das Telefon. Mom hatte gespült und stand am Telefon in der Küche, den einen gelben Gummihandschuh noch übergestreift, den anderen unter den Arm geklemmt. Seifenwasser tropfte auf den Linoleumboden. Als sie leise zu weinen begann, verstand ich, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ich hatte sie niemals zuvor weinen sehen, nicht einmal, als sie auf dem Heimweg von Hayward’s über einen Stein gestolpert war und sich Ellbogen und Knie aufgeschlagen hatte.
Mom bemerkte das Entsetzen in unseren Augen, lächelte uns an und ging mit uns ein Eis essen. Es würde ein besonderes Fest für unseren Großvater geben, sagte sie. Alle würden kommen, Tanten und Onkel und unsere Vettern und Cousinen.
Einige Jahre später ist mir aufgegangen, wie schwer das für meine Mutter gewesen sein muss, unmittelbar nach diesem Anruf, aber nun sehe ich die Dinge anders. Ich lege Quentin eine Hand auf den Kopf. »Na komm, ich mach dir was zu essen.«
»Jetzt?«, sagt er und schaut mich an, als wäre ich verrückt. Im Gegensatz zu uns damals versteht er genau, was geschieht. »Und wenn Oma stirbt, während ich gerade esse?«
Was soll ich darauf antworten? Aus dem gleichen Grund habe ich mich bisher weder geduscht noch umgezogen. Ich kann nicht ausschließen, dass sie in der Minute sterben wird, in der wir den Raum verlassen, aber ich kann Quentin auch nicht stundenlang auf dem Boden sitzen lassen.
»Nun haut schon ab, verdammt«, sagt Charlie. »Wenn sie aufwacht und mir verrät, dass ’ne Scheißmillion unter der Matratze liegt, erfahrt ihr’s eben nie.«
Die Wache dauert bis in die Abendstunden. Howie wird mit jeder Minute, die meine Mutter durchhält, nervöser. Er sagt nichts, aber er sähe es lieber, wir würden jemanden anrufen, der uns mit der nötigen Autorität versichern kann, dass unser Handeln vertretbar ist. »Nur noch ein paar Stunden«, beharre ich.
Ich konzentriere mich auf die Planung ihrer Beerdigung, damit ich hier nicht nur nutzlos herumsitze und warte. Ich überlege, welches Moms Lieblingslieder und -gebete sind. Ich muss schon ein wenig grinsen, denn ihre Beerdigung wird der Gedenkfeier, die sie für Howie organisiert hatte, ziemlich ähneln. Ich wähle die Sargträger aus, formuliere im Kopf die Todesanzeige und notiere sie dann auf einer Papiertüte der Apotheke. Ich versuche, mich an Mutters Verwandtschaft, die ich seit Jahren nicht gesehen habe, zu erinnern, aber mein Gedächtnis weigert sich. Ich kann weder Namen noch Gesichter heraufbeschwören. Ich habe keine Ahnung, wie ich wen erreichen soll, um die Nachricht von Moms Tod zu überbringen. Wo hat sie bloß ihr Adressbuch? Ich hätte sie das am Vortag fragen sollen, denn ich wusste doch, dass ihr Tod nahte.
»Sollten wir nicht
Weitere Kostenlose Bücher