Die Witwen von Paradise Bay - Roman
es goldblond. Die Falten in ihrem Gesicht verschwinden, ihre Fingernägel sind nicht mehr fleckig gelb von den vielen Zigaretten, sondern zartrosa mit runden, weißen Kuppen.
»Ich will nicht, dass du stirbst«, flüstere ich, und dabei strömen mir die Tränen über die Wangen. »Du bist doch meine Mom. Als meine Welt in Trümmern lag, warst du die Einzige, der ich die Wahrheit sagen konnte. Ohne dich hätte ich niemanden gehabt und nicht gewusst, was ich tun sollte. Wo soll ich denn hin, wenn du stirbst?«
Meine Mutter rührt sich und öffnet die Augen. Zum ersten Mal seit langer Zeit schauen sie klar und deutlich. »Vergib ihm, Prissy. Er liebt dich so sehr.« Ich kann nicht sagen, ob sie einen letzten Moment bei klarem Bewusstsein hatte oder uns die ganze Zeit etwas vorgemacht hat. Sie schläft so plötzlich wieder ein, dass ich schon glaube, ich hätte mir ihre Worte nur eingebildet.
Als ich wach werde, ist der Himmel grau. Es ist fast halb zehn. Seltsam, dass Howie meiner Mutter noch nicht aus dem Bett geholfen hat, denn um diese Zeit ist das Frühstück gewöhnlich längst vorbei, und sie hocken gemeinsam vor dem Fernseher. Wir haben den zweiten Weihnachtstag. Vielleicht sitzt Howie schon in einem Flugzeug über dem Atlantik. Aber er würde doch nicht fahren, ohne mir eine Gelegenheit zu geben, mich von Quentin zu verabschieden, trotz meines schrecklichen Benehmens.
Ich schüttle meine Mutter sanft. »Na komm, Zeit aufzustehen und ins Bad zu gehen.« Ich springe aus dem Bett, denn ich will nach Quentin sehen, aber meine Mutter rührt sich nicht. Ich schüttle sie noch einmal, heftiger, doch sie reagiert noch immer nicht. Ist sie etwa schon tot? Sie ist bleich, aber ihre Haut ist warm und durchblutet. Als sich ihre Brust hebt und senkt, stoße ich einen erleichterten Seufzer aus.
»Na komm, Mom«, sage ich wieder. Sie hält die Augen geschlossen. Irgendetwas stimmt nicht. Instinktiv greife ich zum Telefon und wähle den Notruf, aber als sich die Zentrale meldet, lege ich auf. Meine Mutter hat heute Nacht nach Lavendel gerochen, ihr Haar hat in meinen Händen goldblond geglänzt, ihre Finger waren weich und rosa. Sie hatte recht, ihr Tod naht. Ich gelobe, sie auf ihre Weise sterben zu lassen. Ich will nicht, dass meine Mutter in einem Pflegeheim stirbt, angeschlossen an Schläuche und völlig verwirrt.
Ich lasse sie einen Moment alleine und gehe in die Küche. Howie sitzt dort mit einem Kaffee und liest den zwei Tage alten Telegram . Sein Anblick ist eine Erleichterung, besonders jetzt.
»Was macht dein Kopf?«, fragt er leichthin.
Mir geht auf, dass ich immer noch die schwarze Bluse und die blaue Jacke vom Vortag trage, mein Haar zerzaust und meine Wimperntusche verschmiert ist.
»Gut. Danke für die Aspirin.« Ich hole tief Luft. »Mom wird heute sterben.«
Er soll das erst einmal in Ruhe verarbeiten, doch offenbar hält er mich jetzt ebenfalls für verrückt. Er zieht eine Augenbraue hoch und klammert sich an seine Tasse. »Hattest du etwa auch eine Marienerscheinung?«
»So was in der Art«, erwidere ich ruhig. »Rufst du bitte Charlie an? Er sollte dabei sein. Aber nicht mehr. Nur die engste Familie.« Ich bin sehr zufrieden, dass ich so ruhig bleibe. Ich werde mich nicht wie gestern benehmen und eine sterbende Frau mit Figuren bewerfen, weil ich es nicht ertragen kann, dass sie mich verlassen wird.
Howie sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Erstaunen an. Sicher zweifelt er an meinem Urteilsvermögen, verkneift sich aber jeden Kommentar. »Okay. Ich sag Charlie Bescheid. Mit dir alles in Ordnung?«
Seltsamerweise ja. »Ähä.« Ich kehre zurück ans Bett meiner Mutter, um meine Wache zu beginnen.
Charlie kommt gegen halb elf, sein langes Haar ist noch feucht von einer eiligen Dusche. Ich hätte mich gerne umgezogen und ärgere mich, dass er sich diesen Luxus gegönnt hat. Aber ich habe zu viel Angst, jetzt zu duschen, weil meine Mutter womöglich genau in dem Moment stirbt oder ein Familiengeheimnis offenbart oder einige letzte weise Worte spricht und ich das verpassen würde, weil ich mir gerade die Haare ausspüle. Charlie wirft seinen Mantel aufs Sofa und zeigt auf den Sarg, der noch neben dem Weihnachtsbaum ruht.
»Hab doch gesagt, das war keine blöde Idee.«
»Natürlich war das eine blöde Idee. Wenn du das dumme Ding nicht gemacht hättest, läg sie jetzt vielleicht nicht im Sterben.« Das ist natürlich lächerlich, aber an der Tatsache, dass die Vollendung des Sargs mit
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