Die Witwen von Paradise Bay - Roman
oder sogar unvorstellbaren Maß. Ich erzähle Dr. Dunn alles, von Joseph, seinem Tod und den Auswirkungen auf mein Leben. Ich erzähle ihr, warum ich eine Selbsthilfegruppe für junge Witwen gründen wollte, und betone bewusst meine egoistischen, eigennützigen Gründe. Ich erzähle ihr, wie froh ich war, dass Lottie Witwe wurde, denn so war ich nicht mehr die Einzige. Ich erzähle ihr, was die Gruppe meiner Meinung nach sein, was sie leisten und bewirken sollte.
Nach dem Gespräch mit Dr. Dunn versichert mir Lottie, dass wir es schaffen, wir etwas erreichen werden. Um ihretwillen hoffe ich, dass sie recht hat.
Kapitel 30
Prissy
Ich warte mit dem Schlafengehen, bis meine Mutter zu Ende geraucht hat. Zumindest vermute ich, dass sie deshalb im Badezimmer ist. Gewöhnlich komme ich ihr leicht auf die Schliche, denn hinterher ist das Badezimmer eiskalt, weil meine Mutter am offenen Fenster raucht, und obwohl sie danach Lufterfrischer versprüht, riecht man die Zigarette immer noch. Außerdem habe ich neulich beim Putzen ein Heftchen Streichhölzer unter der Badematte gefunden. Mit den Beweisen hätte ich sie festnageln können. Aber ich lasse es ihr durchgehen. Ich kann es zwar nicht gutheißen, aber ignorieren.
Mit Charlie habe ich mich deswegen schon gestritten. »Lass sie doch rauchen, verdammte Scheiße. Is’ doch das Einzige, was ihr noch Spaß macht.«
»Aber wenn sie wieder mit dem Rauchen anfängt, wird sie sterben«, habe ich erwidert und mit Nachdruck ergänzt: »Das haben die Ärzte alle gesagt.«
»Na, und? Lebendig kann man sie ja nicht gerade nennen.«
Ich war so wütend auf Charlie. Für mich hatte das geklungen, als hätte er sie schon aufgegeben, doch inzwischen schließe ich mich seiner Meinung teilweise an. Ich finde es zwar nicht gut, dass ich sie wie eine Halbwüchsige zur Heimlichtuerei zwinge, aber wenn ich sie in meiner Gegenwart rauchen ließe, hätte ich das Gefühl, ihr aktiv zu schaden. Außerdem hat es etwas seltsam Tröstliches, dass sie zwar angeblich nicht mehr die Geschicklichkeit besitzt, Fleisch zu schneiden oder sich eine Bluse zuzuknöpfen, es allerdings schafft, ein Fenster zu öffnen, ein Streichholz anzuzünden und ein tödliches Karzinogen zu inhalieren. Demnach ist ihre Hilflosigkeit teilweise Theater, zumindest eine Frage der Einstellung.
Ich will gerade nach Mom schauen, da klopft es überraschend an der Tür. Als Quentin vor mir steht, halte ich den Atem an, lege eine Hand auf den Mund, drücke Quentin mit zitternden Händen an die Falten meines Bademantels und umarme ihn, bis Tränen in meinen Augenwinkeln prickeln. Ich habe ihn fast drei Monate lang nicht gesehen, aber mein Kummer heilt bei seinem Anblick im Nu. Dass Quentin mich nicht umarmt, ist unwichtig, immerhin toleriert er meine Gefühlsbekundungen. Er schiebt mich weder weg, noch seufzt er genervt. Das ist womöglich die liebevollste Geste, die ein Vierzehnjähriger zustandebringt.
Auf Quentin folgt Howie und wartet geduldig, bis ich von unserem Sohn ablasse. Howie lehnt sich so entspannt und selbstverständlich an die Küchentheke wie jemand, der hier aufgewachsen ist. Er hat immer besser in meine Welt gepasst als ich in seine, was ich sehr an ihm geliebt habe. Jetzt erfüllt es mich mit Verbitterung.
Er reibt kräftig die Hände aneinander und haucht darauf. Sein Hals ist von der üblichen Kombination aus Hemdkragen und Krawatte befreit und wird von einem lässigen hellbraunen Pullover mit rundem Ausschnitt entblößt. Mich überkommt das starke Verlangen, mein Gesicht dort zu vergraben, ihn zu riechen, die Bartstoppeln auf meinen Wangen zu spüren und mich von aller Last zu befreien. Ich würde mir so gerne von der Seele reden, wie furchtbar die letzten Monate waren. Ich würde ihm so gerne erzählen, dass ich acht Wochen lang auf einem Stuhl geschlafen habe, neben dem Krankenbett meiner Mutter. Ihm alles bis ins kleinste Detail schildern, angefangen mit der Zahl der Tabletten, die meine Mutter täglich nimmt, bis hin zur Konsistenz des Essens, das ich für sie kochen muss. Dass ich Mom auf die Toilette helfen und ihr hinterher davon wieder runterhelfen muss, vorausgesetzt, sie schafft es überhaupt. Dass ihre Haut so dünn wie Papier ist und jede einzelne Ader durchschimmert und dass mich das an die gedünsteten Klößchen erinnert, die wir immer in unserem Restaurant in Chinatown bestellt haben. Ich würde ihm so gerne erzählen, dass auf ihren Schienbeinen überall mysteriöse blaue Flecken
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