Die Witwen von Paradise Bay - Roman
führt zu einer überdurchschnittlich hohen Sterberate unter der männlichen Bevölkerung. Hinzukommen die Faktoren Klima, Umgebung und Kultur, die ebenfalls zu einer erhöhten Männersterblichkeit beitragen.«
Hoffentlich ist Dr. Dunn nicht enttäuscht, dass sich der Tod unserer beiden Männer keinem dieser Gründe zuschreiben lässt.
»In Anbetracht all dessen sollten wir kein Problem haben, den Bedarf für eine Organisation wie die Ihre zu begründen«, fährt Dr. Dunn fort. Sie pustet, bevor sie trinkt, auf ihren Kaffee und sucht dann in ihrer Tasche nach einer Schildpattbrille und einem Spiralblock. Sie blättert, bis sie auf eine Seite mit Lotties Namen stößt. Auf der Seite stehen mehrere Notizen. Ich kneife die Augen zusammen, um etwas zu erkennen, aber ich kann nur in Großbuchstaben WIHP lesen, die Abkürzung, um die Lottie so gerungen hat.
Dr. Dunn lässt ihre Brille auf die Nasenspitze rutschen und fährt fort. »Lottie, Sie haben gesagt, es haben schon zehn Frauen Interesse bekundet?«
»Elf«, korrigiert Lottie, und Dr. Dunn macht eine entsprechende Notiz. Ich sehe Lottie erstaunt an. Wo und wie konnte sie elf junge Witwen auftreiben? Dr. Dunn wirkt angesichts dieser Information sehr zufrieden, als ob jeder Todesfall eines jungen Mannes ein gutes Omen für unseren Antrag wäre. Mir widerstrebt der Aufbau einer Selbsthilfegruppe immer mehr, und ich wünsche mir insgeheim, ich wäre niemals auf die Idee gekommen.
»Ich würde gerne mit Ihnen anfangen, Lottie. Wie ist Ihr Mann gestorben?«, fragt Dr. Dunn und rührt ihren Kaffee um.
In Lotties Wangen kriecht Schamesröte. Sie scheint von der Frage peinlich berührt, denkt vielleicht, verglichen mit den von Dr. Dunn angeführten Arbeitsunfällen sei Selbstmord eine weniger ehrenvolle Todesart. »Er hat sich umgebracht«, sagt Lottie leise und glättet sich mit zitternder Hand das Haar am Hinterkopf. »Ich weiß nicht genau, warum, denn er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, aber Ches hat nie was aufgeschrieben. Wenn ich zum Einkaufen zu Hayward’s gegangen bin und Ches bei meiner Rückkehr weg war, hat da nie eine Nachricht gelegen. Er hätte an der Eisbahn, in der Legion oder sonst wo sein können. Ich konnte ihn immer erst fragen, wenn er nach Hause gekommen ist, und dann war es sowieso egal. Vor ein paar Jahren hat sich Ches den Rücken gebrochen. Er konnte zwar noch laufen, aber er hatte starke Schmerzen und war arbeitsunfähig. Er hat viel getrunken, viel geschlafen, und das ist wirklich alles, woran ich mich erinnere.«
Es ist das erste Mal, dass Lottie über Ches gesprochen und dabei keine abfällige Bemerkung gemacht hat. Ich schenke ihr ein ermutigendes Lächeln. Der Elan, mit dem sie sich um öffentliche Gelder bemüht, hat mich von Anfang an verblüfft. Denn Lottie geht es nicht wie mir. Sie hat keine Sehnsucht nach Ches, sie benimmt sich nicht, als würde ihre Welt in Trümmern liegen, sie behauptet sogar, sie hätte Ches nicht einmal besonders gemocht. Ich muss unbedingt wissen, warum diese Gruppe so wichtig für sie ist.
»Warum liegt dir so viel an dieser Sache, Lottie?«, frage ich, als Dr. Dunn gerade selbst eine weitere Frage stellen will.
Lottie holt tief Luft, verschränkt die Hände und legt sie vor sich auf den braun gefleckten Laminattisch. »Ich muss etwas tun. Ches ging es nicht gut, aber ich habe nichts unternommen. Ich habe ihm niemals gesagt, dass ich mir Sorgen um ihn machen würde, denn ich habe mir keine Sorgen gemacht. Ich habe niemals einen Arzt angerufen und gefragt, ob ich etwas tun könnte. Ich war nur wütend, weil Ches ständig geschlafen und getrunken hat. Er hat alle Alarmsignale ausgesendet, und ich habe sie alle übersehen. Teilweise habe ich ein entsetzlich schlechtes Gewissen, weil ich nichts getan, mich nicht um ihn gekümmert habe, und teilweise bin ich einfach wütend, weil er so eine Dummheit begangen hat. Wenn ich diese Selbsthilfegruppe auf den Weg bringe, empfinde ich vielleicht endlich etwas anderes, gibt mir das vielleicht endlich ein gutes Gefühl.«
So emotional habe ich Lottie noch nie erlebt, ihre Wangen haben rote Flecken, und ihre Knöchel und Fingernägel sind weiß, weil sie ihre Hände so fest umklammert.
Die Erkenntnis, dass Lottie diese Gruppe wirklich braucht, vielleicht mehr, als ich sie je gebraucht hätte, überrascht mich. Für sie muss sich vieles grundlegend ändern. In diesem Moment lege ich meine Vorbehalte ab und wachse über mich hinaus, in einem unbeabsichtigten
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