Die Witwen von Paradise Bay - Roman
erscheinen, obwohl sie nicht herumläuft und sich nicht stoßen kann, und dass es meine ganze Kraft in Anspruch nimmt, ihr allein die gelben Zehennägel zu schneiden. Vor allem aber würde ich ihm so gerne gestehen, wie sehr mich mein schlechtes Gewissen plagt, weil ich manchmal insgeheim und nur ein wenig meiner Mutter darin zustimme, dass sie besser in der Nacht des Schlaganfalls gestorben wäre. Doch ich halte mich zurück.
Georgia und Lottie fallen mir ein. Sie werden ihre Männer niemals wiedersehen, trotzdem glaube ich nicht, dass ich in der glücklicheren Lage bin. Es ist bestimmt leichter, sich seinen Mann vorzustellen, als ihm leibhaftig gegenüberzustehen und dennoch nicht an ihn heranzukommen.
Mein Bekenntnisdrang ist so stark, dass ich mir Howies Betrug ins Gedächtnis rufen muss, bis die Wunde wieder frisch und eitrig ist und der alte Widerwille die plötzliche Sehnsucht verdrängt.
»Was machst du hier?«
Howie seufzt. Ihn nervt schon allein meine Frage. »Wenn du dir die Mühe machen würdest, deine Post zu öffnen oder ans Telefon zu gehen, wüsstest du genau, warum ich hier bin.«
Ich habe nicht nur Howies Anrufe ignoriert, sondern auch seine Nachrichten gelöscht, ohne sie mir anzuhören. Und tatsächlich sind neulich drei Briefe aus Toronto gekommen, aber da der Absender eine Anwaltskanzlei war, habe ich sie zu den Scheidungspapieren gelegt. Ich war noch nicht bereit, sie anzusehen. Noch nicht.
»Ich hatte viel zu tun«, lüge ich. »Was ist denn?« Mein Mund wird trocken. Was mag in diesen Briefen, die ich nicht öffnen konnte, stehen?
Howie räuspert sich. »Morgen findet Quentins Gerichtsverhandlung statt, wegen der Vorfälle an jenem Abend, als er sich betrunken und aus einem Lieferwagen Bier und Chips gestohlen hat. Quentin wird sich der Gnade des Richters ausliefern, sein Vergehen mit teenagertypischer Dämlichkeit begründen und auf schuldig plädieren.«
Quentin wirft seinem Vater einen giftigen Blick zu. »Hoffentlich muss ich ins Gefängnis«, nuschelt er. »Kann nich schlimmer sein als bei dir. Gefangene haben wenigstens einmal am Tag Ausgang.«
Die Gerichtsverhandlung hatte ich vollkommen vergessen. Ich bin so eine unzulängliche Mutter! Hätte ich Quentin nach Carbonear bringen müssen, wäre morgen Nachmittag wahrscheinlich schon ein Haftbefehl für mein Kind ausgestellt worden.
»Es tut mir leid, ich muss es vergessen haben«, sage ich.
Ich spüre Howies Blicke auf mir. Ich muss einen tollen Anblick bieten. Mein Bademantel müsste dringend gewaschen werden. Ich habe seit Wochen, vielleicht Monaten, schon kein Make-up mehr benutzt. Ich trage keine Kontaktlinsen, sondern meine Brille mit dem altmodischen, verbogenen Drahtgestell. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich heute überhaupt geduscht habe. Meine Hand befühlt unbewusst meinen Kopf, der fettige Ansatz beantwortet meine Frage. Großartig.
Nicht, dass mich Howie so noch nie gesehen hätte. Im Laufe unserer Ehe hat er mich öfter so gesehen, als ich zugeben mag: als ich die schwere Grippe hatte und vier Tage lang nicht aus dem Bett gekommen bin. Oder als ich mir einen so schlimmen Magenvirus eingefangen hatte, dass ich mich tagelang ununterbrochen übergeben musste und Howie trotz des Kotzegestanks meinen Kopf an seiner Brust ertrug. Aber das war anders. Hier und jetzt fühle ich mich regelrecht entblößt, völlig schutzlos. Nervös schlinge ich den Bademantel um mich, was meinen Gewichtsverlust nur noch betont.
Howie sieht mich an, als würde er erst jetzt meinen Zustand bemerken. »Gott, Prissy, du siehst furchtbar aus. Geht es dir gut?«
Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht schleudern: Nein, mir geht es gar nicht gut, du egoistisches Arschloch! »Alles bestens. Ich hatte nur viel um die Ohren.«
Offenkundig fragt er sich, was mich so beschäftigt haben mag, dass ich darüber die Körperpflege vernachlässigt habe. In dem Moment ertönt die leise Stimme meiner Mutter aus dem Badezimmer, gedämpft weniger durch die geschlossene Tür als durch den Schlaganfall.
»Prissy, alles in Ordnung? Wer ist denn da?«
»Alles okay, Mom. Ich komme gleich«, rufe ich zurück. »Entschuldige mich einen Moment«, sage ich zu Howie. Ich will die Gelegenheit nutzen, meine Mutter unauffällig ins Bett zu bringen, doch Mom wählt diesen Moment, um sich mit ihrem gesunden Arm in unsere Blickachse zu rollen. Nervös halte ich den Atem an.
Doch als Mom Quentin und Howie erblickt, strahlt sie so selig und unschuldig wie ein Kind, das
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