Die Witwen von Paradise Bay - Roman

seine neuen Spielsachen unter dem Weihnachtsbaum entdeckt, und das ist dann wohl der Moment, in dem Mom endgültig den Verstand verliert. Ihre körperlichen Unzulänglichkeiten hatten sich gleich gezeigt, aber der Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten ist langwieriger und komplizierter verlaufen. Seit dem Schlaganfall beschränken sich die Ausdrucksmöglichkeiten meiner Mutter auf eine mürrische und eine missbilligende Miene, die jeweils den Grad ihres Grams anzeigen. Ich hatte sogar manchmal vermutet, dass der Schlaganfall die Gesichtsmuskeln, die für das Lächeln zuständig sind, vollständig gelähmt hatte, aber nun erscheint das Gesicht meiner Mutter so jung und entspannt wie seit Monaten nicht.
    »Mein kleines Möppelchen«, lallt sie Quentin an. »Komm und gib Omi ’nen Kuss.«
    Quentin zögert, seine Großmutter macht ihm Angst. »Was hat Oma denn?«, fragt er, als könnte er sich mit dem, was ihr widerfahren ist, anstecken.
    »Schon okay«, ermuntere ich ihn. »Oma war krank und braucht bei manchen Dingen Hilfe, aber sonst geht es ihr gut«, versichere ich ihm. »Sie hat dich sehr vermisst.« Wieder spüre ich Howies Blick auf mir, aber ich weigere mich, ihn anzusehen, und richte meine Aufmerksamkeit auf Quentin und versuche ihn im Geiste zu einer Umarmung zu drängen, was er zu meiner großen Erleichterung schließlich tut.
    »Clara«, sagt Howie höflich. »Schön, dich zu sehen.« Er scheint unsicher, wie er seiner Schwiegermutter unter diesen Umständen gegenübertreten soll, und ich kann es ihm nicht verübeln. Das ist schließlich die Frau, die seinen Tod erfunden, eine Gedenkfeier organisiert und ihn mit jedem nur erdenklichen Schimpfwort belegt hat, und nun sitzt sie vor ihm im Rollstuhl, gebrechlich, dünn, bemitleidenswert. Howie scheint sich trotzdem gegen eine weitere Verbalattacke zu wappnen, doch Mom strahlt ihn an.
    »Howard, siehst du blendend aus«, sagt sie. »Ich glaubte beinahe schon, du hättest uns im Stich gelassen, aber so was würdest du nicht tun.« Sie lächelt über diese vermeintlich abwegige Unterstellung. »Und jetzt komm her und lass dich umarmen.«
    Am liebsten würde ich über Howies verwirrte Miene laut lachen, doch mein Moralkodex verbietet mir, mich über die Demenz meiner Mutter lustig zu machen. Howie ist ebenso wenig auf ihren liebevollen Empfang wie auf ihren körperlichen Verfall vorbereitet. Er sieht mich fragend an, aber ich lächle nur versteckt hinter der Hand. Howie beugt sich zögernd vor und folgt der Bitte seiner Schwiegermutter. Er wirkt steif und argwöhnisch.
    »Ich bin heilfroh, dass du hier bist«, flüstert ihm Mom für alle hörbar ins Ohr. »Prissy hat dich so vermisst.«
    Howies Blick lässt mich erröten, und ich wünschte, meine Mutter würde ihn wieder als Hurensohn beschimpfen.
    Nachdem ich Mom ins Bett gebracht habe und Quentin im Flur auf der alten Couch eingeschlafen ist, winkt mich Howie in die Küche. Ich kann es nicht leiden, wenn er mich auf diese Weise herbeizitiert, folge ihm dennoch.
    »Warum hast du mir das nicht erzählt?«, fragt Howie.
    »Weil es absolut nicht dein Problem ist«, erwidere ich kühl.
    »Ich hätte euch doch helfen können.«
    »Wir brauchen deine Hilfe nicht.«
    Howie schüttelt ungläubig den Kopf, als könnte er noch immer nicht fassen, was über seine Schwiegermutter gekommen ist. »Was war los?«
    »Sie hatte einen Schlaganfall«, antworte ich sachlich. »Ihre linke Körperhälfte ist seither gelähmt, und neben der Beeinträchtigung von Muskulatur und Sprache sind auch Teile ihres Gedächtnisses betroffen. Sie weiß nicht mehr, was zwischen uns vorgefallen ist, und ich habe wirklich keine Lust, es ihr noch einmal zu erzählen, vor allem nicht unter diesen Umständen. Deshalb war sie, tja, nett zu dir. Ich würde es sehr begrüßen, wenn du das so stehenlassen könntest.«
    »Natürlich.« Howie nickt einsichtig, während ich weitere Einzelheiten zu Mutters Zustand rezitiere. Ich bleibe distanziert, folge dem Tonfall all der Mediziner, mit denen ich in den letzten Monaten gesprochen habe, und verwende Worte wie ischämisch und Aphasie – Worte, die ich selig Unwissende zuvor nicht gekannt hatte. Und nun bin ich plötzlich Expertin auf diesem Gebiet.
    Howie reibt sich mit den Fingern über die Stirn, nur einmal verschränkt er die Hände hinter dem Kopf, als wollte er Sit-ups machen.
    »Es tut mir leid, dass du das alleine durchstehen musstest«, sagt er. »Besonders … angesichts all der anderen Sachen. Du