Die Witwen von Paradise Bay - Roman
so anpassungsfähig ist wie Charlie! Wenn man in solch eine Situation hineinplatzen und sich vollkommen ungezwungen verhalten kann. »Reichst du mir mal den Scheißsirup, Prissy?«
»Was machst du hier, Charlie?«, frage ich. Es ist acht Uhr morgens, und in letzter Zeit erscheint Charlie selten vor drei Uhr nachmittags.
Er zuckt mit den Schultern. »Dachte, der kleine Scheißer braucht moralische Unterstützung. Ich könnte ja Leumundszeuge sein oder so.«
Kein Wunder, dass er auf Howies Anblick vorbereitet war. Charlie hatte an Quentins Gerichtsverhandlung gedacht. Was bin ich bloß für eine Mutter. Offensichtlich bin ich die Einzige, die von Quentins Termin nichts wusste. Aber Charlies Geste ist rührend, und Quentin freut sich bestimmt.
Als er sich zu uns gesellt, erkenne ich meinen Sohn kaum wieder. Er trägt Anzughose und Hemd, das Haar ist in einem übertrieben akkuraten Scheitel zur Seite gekämmt. Howie hat ihm diese Sachen wohl im Hinblick auf den Gerichtstermin gekauft, denn seit dem Klassenfoto aus der Grundschule habe ich Quentin in keinem Anzug mehr gesehen.
Charlie lacht laut los. »Hey, kleiner Scheißer, wo soll’s hingehen? Zur Chorprobe?«
»Halt deine verdammte Klappe, Charlie«, gibt er zurück.
»Pass auf, was du sagst, Quentin.« Das war Howie.
»Aber er hat mich kleiner Scheißer genannt!«
Charlie kann sich das Lachen kaum verkneifen, und Quentin lächelt widerstrebend mit.
»Na komm, kleiner Scheißer, du weißt, dass das ein Zeichen von Respekt ist.«
Mein Sohn sieht bleich und nervös aus, und darum nehme ich ihn in Schutz.
»Ich finde, du siehst gut aus«, sage ich und lächle ihn an.
»Ich seh wie’n Volltrottel aus.«
»Wir müssen erst in einer Stunde aufbrechen«, sage ich. »Warum isst du nicht ein paar Pfannkuchen?«
»Ich kann nicht, sonst muss ich kotzen.«
Ein wenig Schadenfreude empfinde ich schon, wenn ich meinen Sohn derart vom Gesetz eingeschüchtert vor mir sehe, aber der mütterliche Instinkt siegt. Ich fasse ihn an den Schultern, sage ihm, dass alles gut wird und ich die ganze Zeit bei ihm sein werde. Quentin erstarrt unter meiner Umarmung.
»Du kannst nicht kommen«, sagt er. »Nur ich und Dad und Onkel Charlie.«
Ich versuche, meine Kränkung zu überspielen. »Natürlich komme ich.«
»Mom, nimm’s mir nicht übel, aber du wirst manchmal echt emotional. Was, wenn der Richter mich in allen Punkten für schuldig hält und mich als besonders abschreckendes Beispiel in Handschellen abführen lässt? Da brauch ich echt nicht auch noch meine Mutter, die ›Neiiiiiiin!‹ schreit und in Ohnmacht fällt.«
Ich muss mir das Lächeln verkneifen. Quentin ist vierzehn, gilt damit als jugendlicher Straftäter, und dies hier ist seine erste und hoffentlich letzte Begegnung mit dem Gesetz. Außerdem wird er keines schweren Verbrechens bezichtigt. Handschellen und Gefängnis sind ausgeschlossen. Im Höchstfall wird es wohl eine Strafaussetzung zur Bewährung geben. Möglicherweise muss er auch einige Stunden Sozialdienst ableisten oder einen Lehrgang über Jugendkriminalität besuchen.
»Na schön, ich warte hier«, sage ich stoisch. »Halt den Kopf oben.«
Meiner Mutter erzähle ich, die Männer würden gemeinsam nach St. John’s ins Kino fahren, aber ob sie mir das glaubt? Sie nickt auf eine Weise, dass ich mich frage, wer hier eigentlich wen bei Laune hält.
Nach fünf unerträglich langen Stunden, in denen ich aus lauter Nervosität den Fugenkitt im Badezimmer geschrubbt und den Kühlschrank gereinigt habe, kommen Quentin, Charlie und Howie vom Jugendgericht zurück. Quentin benimmt sich so überschwänglich, als wäre er nach einem langen Mordprozess entlastet worden.
»Mom, ich bin ein freier Mann!«
»Du hättest ihn sehen sollen, Priss«, sagt Charlie und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. »Er war weiß wie ’ne Scheißwand. Aber er hat’s durchgezogen. Hat dem Richter gesagt, dass es ihm furchtbar leid tut.«
Wie erwartet gab es eine Strafaussetzung mit einem Jahr Bewährung. Quentin musste sich von der Richterkanzel wohl auch einige harsche Worte über den Respekt vor dem Eigentum anderer und die Gefahren des Alkoholmissbrauchs anhören. Und er muss in St. John’s ein Seminar für schwierige Jugendliche besuchen. Ich bin schon etwas fassungslos, dass meinem Kind dieser Stempel aufgedrückt wurde. Aus Howies Mund klingt das alles, als wäre er Quentins Anwalt und nicht sein Vater.
»Das Seminar beginnt in zwei Wochen, da macht es wenig
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