Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Sinn, wieder nach Toronto zu fahren«, fügt er autoritär hinzu. »Ich habe schon mit dem Direktor gesprochen, morgen werden Quentins Unterrichtsmaterialien per Kurier hergeschickt.«
»Gut.« Ich freue mich sehr, Quentin zwei Wochen bei mir zu haben, und bin ihm für den Gesetzesverstoß beinahe dankbar. »Und wann fährst du?«, frage ich. »Du kannst gerne zum Essen bleiben, falls das nicht mit deinem Rückflug kollidiert.« Ich bemühe mich, das Beste aus der Situation zu machen, denn das hat Howie auch getan, besonders im Umgang mit meiner Mutter, und jetzt schenkt er mir sogar zwei Wochen mit meinem Sohn.
»Das wäre toll«, sagt Howie und lächelt mir bis ins Herz. »Ich hatte nämlich vor, mit Quentin zusammen hierzubleiben.«
Ich will gerade Einspruch erheben, doch da ruft Mom nach Howie und bittet ihn, Fish and Chips zu holen. Und auch mein Protest, dass Mom so etwas nicht essen darf, verhallt ungehört, denn Howie ist schon unterwegs.
Kapitel 32
Lottie
Ich erkenne Roger Parsons in dem Augenblick, als er bei Lawlor’s zur Tür hereinkommt. Dabei trägt er nicht einmal einen Anzug, und es begleitet ihn auch kein Assistent oder Reporter. Als Abgeordneter von Paradise Bay und den umgebenden Kommunen ist Roger Parsons eine Lokalberühmtheit. Man weiß, dass er sich unermüdlich für alles engagiert, was den Hiesigen am Herzen liegt – geteerte Straßen, Jobs und eine bezahlbare medizinische Versorgung. Er geht zu Hochzeiten und runden Geburtstagen in die Legion. Er tanzt mit Bräuten und wünscht jungen Paaren Gesundheit und Glück.
Er kommt auch jedes Jahr zur offiziellen Eröffnung der Marktsaison, schlendert an den Ständen vorbei und lobt die Kreativität und den Unternehmergeist der Anwohner. Georgia sagt, dass er bei der Gelegenheit immer zwei Blöcke Karamell kauft und sie in den höchsten Tönen lobt.
Irgendjemand hat gesagt, er sei sogar auf Ches’ Beerdigung gewesen, aber ich erinnere mich nicht daran. Allerdings erinnere ich mich an kaum etwas, außer dass es ein schöner Sommertag war und ich mir gewünscht hatte, es wäre bewölkt und regnerisch, passend zu meiner Stimmung. Als ich die hellen Sonnenstrahlen sah, ging mir durch den Kopf, dass sich Gott über Ches’ Tod freut, was ich nicht verstehen konnte, denn die Seelen von Selbstmördern sind doch auf ewig dazu verdammt, in der Hölle zu schmoren. Aber die Sonne verhieß mir, dass Ches erlöst wurde, und daraufhin wurde mir viel leichter ums Herz, ich schwebte geradezu.
Beim Anblick von Roger Parsons bekomme ich einen trockenen Mund. Er setzt sich auf einen Hocker an die Theke, ich gehe mit einer Kanne frischen Kaffee zu ihm. Meine Hand zittert ein wenig, vielleicht weil die Kanne randvoll und ungewöhnlich schwer ist, oder weil mein Magen nervös rumort und meine Beine nachgeben. Roger Parsons’ unerwartetes Erscheinen, einen Tag, nachdem ich von Dr. Dunn den Antrag auf Fördermittel erhalten habe, muss auch ein Zeichen des Himmels sein. Wieder fühle ich mich schwerelos.
Ich würde Roger Parsons gerne auf das Thema ansprechen, aber ich bin nervös, zweifelnd und unsicher. Ich weiß nicht, warum. Dr. Dunn hat einen wunderbaren Antrag geschrieben. Es stehen all die Floskeln, die auch die Regierung ständig benutzt, darin: Formulierungen wie verbesserte Koordination zwischen den jeweiligen Behörden, Kommunalarbeit, Steigerung der Lebensqualität von Familien auf dem Land in Übergangssituationen, wirtschaftliche und soziale Unterstützung für Familien in Notlagen und so weiter. Es sind genau die Sätze, die man von Politikern in den Abendnachrichten hört oder in der Zeitung liest.
Ich habe mir alles eingeprägt und trotzdem Angst, Mr. Parsons anzusprechen. Was, wenn ich etwas Dummes sage und damit meine Chancen ruiniere? So wie die Frau in der Süßwarenfabrik, über die das ganze Land gelacht hat, während des Staatsbesuchs der Königin von England. Als Ihre Majestät die Arbeiterin gefragt hat, was sie machen würde, hat das arme Ding nicht etwa gesagt, Marmeladenkekse oder Pfefferminzbonbons oder Toffees, sondern dass sie sieben Dollar in der Stunde machen würde. Das wurde mit breitem Grinsen überall berichtet.
Ich will gerade Roger Parsons’ Bestellung aufnehmen, da betritt Fred das Diner und lässt sich auf einen benachbarten Hocker fallen. Er legt Roger Parsons brüderlich einen Arm auf den Rücken, dann umarmen sie sich wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Fred hatte mir zwar gesagt, dass er
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