Die Witwen von Paradise Bay - Roman
erster Neuwagen überhaupt. Ich hatte mit Joseph geschimpft, weil das Auto nicht familientauglich war. Und wo soll ich die Kindersitze hinstellen? , hatte ich gefragt, als ob zu Hause schon eine Kinderschar darauf wartete, in die Stadt gekarrt zu werden. Kommt Zeit, kommt Rat , hatte er mir versichert. Er wollte diesen Geländewagen, um mit Fred durch die Wildnis zu kurven, zum Angeln, Kajakfahren oder Zelten.
Und dann bleibt mir das Herz fast stehen. Mir wird etwas völlig Offensichtliches bewusst, das ich fünf Jahre lang übersehen habe: Es war Josephs Geländewagen, aber Joseph hat nicht am Steuer gesessen. Joseph war an jenem Nachmittag um kurz vor vier aufgebrochen, weil er Fred abholen wollte. Warum ist dann abends Fred gefahren? Joseph ließ niemanden ans Steuer. Selbst ich durfte den Wagen kaum bewegen, wenn er die Auffahrt blockierte. Und Fred durfte ans Steuer und auf den Highway fahren? Ich muss unbedingt wissen, wieso.
Sekunden später schon brause ich zu Fred. Die Straße ist nicht geteert, aber auf dem gefrorenen Boden gleitet man schnell dahin. Fred hat von seinem Großvater riesige Ländereien geerbt, doch sein Haus ist bescheiden. Der kleine Bungalow wirkt auf dem großen Grund beinahe wie eine Garage.
Er ist zu Hause, sein Wagen steht in der Auffahrt, und im Wohnzimmerfenster spiegelt sich der Fernseher. Ich klopfe an und trete ungebeten ein. Fred sitzt im Wohnzimmer, mit einem Bier in der Hand und einer offenen Pizzaschachtel, in der drei Stücke fehlen und ein Haufen Pilze liegt, auf dem Schoß. Am liebsten würde ich Fred fragen, warum er die Pizza nicht von vornherein ohne Pilze ordert. Aber Lottie sagt, dass er sich auch bei der Bestellung seines Frühstücks benimmt, als würde er ihr zur Last fallen, und sich für seine Anwesenheit entschuldigt, wenn es hektisch oder voll ist. So etwas sieht ihm ähnlich, würde sie sagen. Lieber pickt er die Pilze raus, als darum zu bitten, die Pizza erst gar nicht damit zu belegen.
Fred schaut sich ein Hockeyspiel an. Den Trikots nach zu urteilen, spielt Boston gegen Montreal. Ich verstehe nicht viel von Hockey, aber Joseph hatte mir einmal erzählt, diese beiden Teams würden sich geradezu hassen. Wenn sie gegeneinander angetreten sind, hat Joseph ausnahmsweise die Boston Bruins angefeuert. Fred sieht mich erstaunt an und bietet mir ein Bier und ein Stück Pizza an. Ich lehne ab.
Ich will gleich zur Sache kommen: »Warum bist du an jenem Abend gefahren? Joseph hat niemanden ans Steuer gelassen. Der Wagen war nagelneu.«
Fred stellt sein Bier auf den Tisch und holt tief Luft. »Ich warte seit fünf Jahren darauf, dass du mir diese Frage stellst, und nun weiß ich nicht recht, was ich antworten soll.«
»Er hat nicht getrunken«, sage ich in beherrschtem Ton. »Bei der Autopsie wurde kein Alkohol in seinem Blut gefunden.«
Fred nickt. »Ich weiß. Wir wollten nach dem Spiel ausgehen und ein Bier trinken. Aber wir haben bloß Wasser und Gatorade getrunken.« Fred holt wieder tief Luft, und ich muss mich sehr beherrschen, ihn nicht anzubrüllen, damit er endlich mit der Sprache rausrückt. »Während des sechsten Innings hat Joseph einen Hechtsprung gemacht, Mitte-rechts. Es war ein toller Fang – alle sind aufgesprungen und haben gejubelt. Aber Joseph ist auf dem rechten Arm aufgeschlagen, und danach hat er nur noch mit dem linken gespielt. Doch es wurde so schlimm, dass er abbrechen und mit einem Eisbeutel auf der Reservebank sitzen musste. Als das Spiel vorbei war, war sein Arm blau geschwollen. Ich wollte ihn zum Röntgen in die Notaufnahme fahren, aber er hat mich bloß aufgezogen, ich sei ja schon wie du, weil ich so ein Trara veranstalten würde.«
Ich lächle traurig, denn das hätte Joseph ähnlich gesehen.
»Er wollte nach Hause, zu dir. Aber es hatte ihn zu übel erwischt, er konnte nicht fahren, darum hat er mich gebeten, ihn nach Hause zu bringen. Ich hab ihm das Versprechen abgenommen, dass er am nächsten Tag zum Arzt geht. Wir haben gelacht und über das Spiel geredet, und dann ist irgendwas vor den Wagen gelaufen, wahrscheinlich ein Tier. Ich hab instinktiv versucht, auszuweichen. Es ging alles so schnell. Ich würde dir gerne erzählen, was danach passiert ist, aber ich erinnere mich nicht. Ich war wohl eine Zeitlang bewusstlos, bis der Krankenwagen kam. Der Rest des Abends war der reinste Horrorfilm, das weißt du ja.«
Auf einmal schäme ich mich, dass ich Fred gegenüber so viel Ablehnung empfunden, dass ich ihn für Josephs
Weitere Kostenlose Bücher