Die Wölfe von Yellowstone. Die ersten zehn Jahre (German Edition)
die ersten »normalen« Touristen fallen ins Lamar Valley ein. Sie sehen uns mit unseren Hochleistungsspektiven warten, halten kurz an, während die lauten Motoren ihrer benzinfressenden Autos aufheulen, lassen das Fenster runter und schreien: »Irgendwas los da draußen?« Wenn wir verneinen, brausen sie weiter. Einige wollen uns nicht so recht glauben. Sie parken ihr Auto, steigen aus und gesellen sich zu uns. Rick wird wie immer von seiner Fangemeinde umlagert. Eine blonde Dame mit rosa Sweatshirt über den Jeans und mit paillettenbesetzten Schuhen fragt ihn mit tiefem Augenaufschlag aus getuschten Wimpern: »Wann werden die Wölfe rausgelassen?« Ich halte die Luft an, um nicht laut loszuprusten, und kann daher Ricks Antwort leider nicht verstehen, sehe aber, wie er freundlich und mit unbewegtem Gesicht der Dame etwas erklärt, woraufhin sie befriedigt wieder zu ihrem Wagen tippelt und weiterfährt. In diesen Augenblicken steigt Rick auf dem Monument, auf das wir Wolfsgroupies ihn gesetzt haben, in schwindelnde Höhen.
Es ist morgens nach neun Uhr. Die Wölfe haben einen Umweg gemacht und sich heute nicht mehr blicken lassen. In den Parkhotels ist jetzt das Frühstück beendet, und die Touristen brechen zur Rundfahrt auf. Die ersten Busse mit japanischen, koreanischen und europäischen Besuchern treffen im Lamar Valley ein. Sie alle hoffen, einen Wolf oder Grizzly vor die Kamera zu bekommen, möglichst so dicht, dass sie ihn mühelos und mit der normalen Brennweite ablichten können. Kaum einer von ihnen hat die Zeit, sich abseits der Wege und Geysire umzusehen. Ihr Zeitplan lässt keine Verzögerungen zu: eine halbe Stunde Norris Geysir Bassin, eine halbe Stunde Lower Falls, eine Stunde Mammoth Hot Springs und eine Stunde Old Faithful. Auf dem Weg dorthin können sie – wenn sie Glück haben – einen Bären, einen Wolf, einen Kojoten oder einen Elch »mitnehmen«.
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe selbst – lange vor der Rückkehr der Wölfe – im Sommer als Reiseleiterin in Yellowstone gearbeitet. Das Lamar Valley war dabei nie auf meinem Reiseplan. 1980 geriet ich eher durch Zufall in dieses Tal. Unsere normale Route von Cody, Wyoming, durch den Ost-Eingang war wegen Straßenarbeiten gesperrt. So fuhren wir über den spektakulären Chief Joseph Highway nach Cooke City und von dort durch das nordöstliche Tor in den Park.
Schon beim ersten Anblick des Lamar Valley hat mich die Magie dieses Ortes erfasst – und von da an nie mehr losgelassen. Noch im selben Jahr kam ich zurück, diesmal allein und ohne Touristen. Seit dieser Zeit fahre ich immer wieder in die »Serengeti Amerikas«, mehrmals im Jahr und – wenn es sich privat und beruflich einrichten lässt – auch für längere Zeit. In den ersten Jahren fanden nur wenige Besucher ihren Weg in diese entlegene Ecke. Lediglich die »Bärenfans« waren im Sommer hier und ein paar Biologiestudenten, die das Verhalten der Kojoten erforschten. Ansonsten wurde die Straße durch das Hochtal nur als Durchgangsstraße benutzt.
Aber seit die Wölfe zurück sind, ist auch dieser Ort nicht mehr geheim. Im Jahr 2002 wurde der hunderttausendste Besucher im Lamar Valley willkommen geheißen.
Ich habe eine geteilte Meinung zu dem Thema. Auf der einen Seite verdiene auch ich an dem Trubel um die Wölfe mit, denn ich organisiere Wolfsbeobachtungstouren und führe als Guide Einzelpersonen oder kleine Gruppen zu den Wölfen. Auf der anderen Seite stelle ich immer mehr fest, wie sehr das Lamar Valley durch die ansteigenden Besucherzahlen zu einer der vielen weiteren Attraktionen von Yellowstone »degradiert« wird – zumindest in der Hochsaison in den Sommermonaten.
Aber es gibt ihn noch, den Zauber dieses Tals. Es gibt ihn an kalten Wintertagen, wenn der Frost mit Temperaturen um minus 40 Grad Celsius den Atem der Bisons gefrieren lässt und nur noch die hartgesottensten Wolfsfans draußen stehen. Es gibt ihn sogar im Sommer, wenn man nur ein wenig abseits der Straßen ins Hinterland wandert. Dort begegnet man Gleichgesinnten, die ebenfalls die Stille suchen.
Oft, wenn ich dem Wolfstrubel entrinnen will, wandere ich zu einem meiner Lieblingsplätze im Backcountry und warte. Es dauert nicht lange, dann kommen die Tiere. Nach so vielen Jahren der Wolfsbeobachtung »brauche« ich keine Wölfe mehr zu meiner persönlichen Glückseligkeit. Ich muss noch nicht einmal Kojoten, Bären oder Elche sehen. Ich habe die kleine Welt von Yellowstone entdeckt, die, an der die
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