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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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zusammengeschlagenund meinen Arm gehoben hatte. »Ja, ja.« Neugierig musterte er mich; tatsächlich wies mein neuer Tarnanzug keinerlei Abzeichen auf. Ich stellte mich vor. An der Wand hinter ihm hing armseliger Weihnachtsschmuck: Girlanden aus Zeitungspapier, dazwischen, auf der nackten Mauer, die Kohlezeichnung eines Baums, Blechsterne und andere Produkte soldatischen Erfindergeistes. Auch eine große schöne Zeichnung der Krippe gab es: Doch statt in einen Stall war die Szene in ein zerstörtes Haus verlegt, inmitten verkohlter Ruinen. Ich setzte mich zu dem Offizier, einem jungen Oberleutnant, der eine Kompanie dieser kroatischen Einheit, des 369. Infanterieregiments, befehligte: Ein Teil seiner Männer hielt den Frontabschnitt vor der Fabrik »Roter Oktober«; die anderen ruhten sich hier aus. Seit einigen Tagen verhielten sich die Russen relativ ruhig; von Zeit zu Zeit schossen sie mit ihren Granatwerfern, aber die Kroaten erkannten sehr wohl, dass man sie damit nur ärgern wollte. Gegenüber den Gräben hatten die Sowjets auch Lautsprecher aufgestellt, die den ganzen Tag lang traurige oder lustige Weisen dudelten, von Propaganda unterbrochen, in der unsere Soldaten zur Fahnenflucht oder Aufgabe ermuntert wurden. »Die Männer achten nicht weiter auf die Propagandatexte, weil die Russen sie mit einem Serben aufgenommen haben, aber die Musik deprimiert sie kolossal.« Ich fragte ihn, ob es Desertionsversuche gegeben habe. Er antwortete ziemlich ausweichend: »Es kommt vor … aber wir tun alles, um sie zu verhindern.« Weit mitteilsamer war er bezüglich der Weihnachtsfeier, die sie vorbereiteten; der Divisionskommandeur, ein Österreicher, hatte ihnen eine zusätzliche Ration versprochen; ihm selbst war es gelungen, eine Flasche des von seinem Vater gebrannten Losawiza aufzuheben, die er zusammen mit seinen Männern trinken wollte. Vor allem aber interessierte er sich für Neuigkeiten über Manstein. »Er kommt also?« Das Scheitern der Hoth-Offensive war den Truppennatürlich nicht mitgeteilt worden, da war es nun an mir, ausweichend zu antworten: »Halten Sie sich bereit«, erwiderte ich lahm. Der junge Mann war bestimmt einmal ein eleganter und sympathischer Mensch gewesen; jetzt wirkte er jämmerlich wie ein geprügelter Hund. Er sprach bedächtig und suchte sorgsam nach Worten, als hätte sich sein Denken verlangsamt. Eine Weile erörterten wir noch die Versorgungsschwierigkeiten, dann stand ich auf, um zu gehen. Wieder fragte ich mich, was ich hier verloren hatte: Was konnte mir dieser Offizier, der von allem abgeschnitten war, für Mitteilungen machen, die ich nicht schon irgendwo in einem Bericht gelesen hätte? Gewiss, ich konnte mich mit eigenen Augen vom Elend der Männer, ihrer Erschöpfung und ihrer Verstörtheit überzeugen, aber auch die kannte ich bereits. Mir hatte bei meinem Eintreffen ein Gespräch über das politische Engagement der kroatischen Soldaten auf deutscher Seite vorgeschwebt, über die politischen Ansichten der Ustascha: Aber jetzt war mir klar, dass das überhaupt keinen Sinn hatte; es war schlimmer als sinnlos, und dieser Oberleutnant hätte sicherlich nichts antworten können, in seinem Kopf war für nichts anderes mehr Raum als für Essen, sein Zuhause, seine Familie, die Gefangenschaft oder seinen nahen Tod. Ich war plötzlich erschöpft und angewidert, ich kam mir vor wie ein Heuchler, ein Idiot. »Fröhliche Weihnachten«, sagte der Offizier, als er mir lächelnd die Hand drückte. Einige seiner Männer betrachteten mich ohne den geringsten Anflug von Neugier. »Auch Ihnen fröhliche Weihnachten«, zwang ich mich zu antworten. Ich holte Iwan und ging wieder nach draußen, wo ich gierig die kalte Luft einsog. »Und jetzt?«, fragte Iwan. Ich überlegte: Wenn ich schon einmal bis hierher gekommen war, sollte ich zumindest einen der Vorposten aufsuchen. »Können wir bis zur Front gehen?« Iwan zuckte die Achseln: »Wenn du willst, Chef. Aber wir müssen den Offizier fragen.« Ich ging in den großen Saal zurück: DerOffizier hatte sich nicht gerührt, noch immer starrte er wie abwesend auf den Ofen. »Herr Oberleutnant? Kann ich eine Ihrer vorgeschobenen Stellungen besuchen?« – »Wenn Sie möchten.« Er rief einen seiner Männer herbei und gab ihm einen Befehl auf Kroatisch. Dann sagte er zu mir: »Das ist Oberfeldwebel Nii. Er übernimmt die Führung.« Plötzlich hatte ich den Einfall, ihm eine Zigarette anzubieten: Sein Gesicht hellte sich auf, langsam streckte er die

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